1. Der Senat folgt der Auffassung, wonach bei Zusammentreffen einer gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV vorzunehmenden Anrechnung mit der nach § 15 Abs. 3 RVG gebotenen Abgleichung zunächst die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr zu erfolgen hat und erst hiernach festzustellen ist, ob die Kappungsgrenze nach § 15 Abs. 3 RVG eingreift ("Erst anrechnen, dann kürzen"):

a) Aufgrund der außergerichtlichen Mandatierung der Beschwerdeführerin hat eine Anrechnung der daraus nach Nr. 2300 VV entstandenen Geschäftsgebühr auf die gerichtliche Verfahrensgebühr der rechtshängig gemachten Ansprüche nach Nr. 3100 VV zu erfolgen, um die zweimalige Honorierung einer annähernd gleichen Tätigkeit zu verhindern bzw. dem infolge der Vorbefassung reduzierten Aufwand des Anwalts Rechnung zu tragen. Die 1,3-Verfahrensgebühr hat die Beschwerdeführerin in nicht zu beanstandender Weise mit 1.172,60 EUR angesetzt. Zusätzlich entstand die reduzierte 0,8-Verfahrensgebühr gem. Nr. 3101 Nr. 2 VV aus dem Wert der nicht rechtshängig gemachten, aber durch den Vergleich mit erledigten Ansprüche, ebenfalls zutreffend in Höhe von 606,04 EUR. Die Obergrenze aus dem Gesamtbetrag der rechtshängigen und nicht rechtshängigen Gebühren nach dem höchsten Satz einer 1,3-Verfahrensgebühr aus 67.650,00 EUR gem. § 15 Abs. 3 RVG war bei 1.560,00 EUR. Rechnet man zunächst die außergerichtliche Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr an, so vermindert sich diese auf (1.172,60 EUR – 365,00 EUR) 807,60 EUR. Die Obergrenze von 1.560,00 EUR ist bei Zusammenrechnung beider Verfahrensgebühren nicht überschritten (907,60 + 606,40 EUR = 1.414,00 EUR). Stellt man dagegen zunächst die ungekürzten addierten Verfahrensgebühr dem Höchstwert des zusammengerechneten Streitwerts gegenüber (1.172,60 EUR + 606,40 EUR = 1.779,00 EUR), so ergibt sich eine erste Kürzung aus der Überschreitung der Kappungsgrenze in Höhe von 94,50 EUR, und eine weitere Kürzung aus der Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr in Höhe von 365,00 EUR, d.h. statt 1.414,00 EUR lediglich 1.395,00 EUR.

Die ganz h.M. in Rspr. u. Lit. nimmt bei außergerichtlicher Vorbefassung des Rechtsanwalts zuerst die Anrechnung der Geschäftsgebühr vor und erst danach die Vergleichsberechnung i.S.d. § 15 Abs. 3 RVG (OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.1.2009 – 8 W 527/08, JurBüro 2009, 246 (AGS AGS 2009, 56); dem folgend OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.12.2011 – 5 WF 220/10, FamRZ 2011, 1682 (AGS 2011, 165); zustimmend Hansens, RVGreport 2009, 103; Enders, JurBüro 2009, 225 – ausführlich und aufgegliedert nach Umfang der außergerichtlichen Tätigkeit; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 19. Aufl., Vorbem. 3 Rn 207; Mayer/Kroiß/Winkler, RVG, 4. Aufl., § 15 Rn 109; AnwK-RVG/N. Schneider, 6. Aufl., § 15 Rn 230 ff.).

Das OLG Stuttgart begründet dies damit, die im dortigen Falle nicht rechtshängig gemachten aber mit verglichenen Ansprüche seien, anders als der rechtshängige Anspruch, nicht Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit des Anwalts gewesen; eine Anrechnung gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV sei deshalb nicht gerechtfertigt. Zudem reduziere sich infolge der Anrechnung nach der Rspr. des BGH nur die wegen desselben Gegenstands später anfallende Verfahrensgebühr, weshalb diese nur in dem – durch Anrechnung bereits geschmälerten Umfang der Vergleichsrechnung des § 15 Abs. 3 RVG unterfallen dürfe. Schließlich sei die – um die anteilige Geschäftsgebühr geminderte – 1,3-Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV aus dem Zahlungsanspruch bereits früher angefallen als die reduzierte Verfahrensgebühr aus dem Mehrwert des Vergleiches.

Dem folgt das OLG Karlsruhe. Soweit der Anwalt wegen einzelner Streitgegenstände außergerichtlich nicht tätig gewesen sei, komme es gerade nicht zu einer – die Anrechnung gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV rechtfertigenden – Aufwandsreduzierung.

Auf diese Gedanken stellt offensichtlich auch Müller-Rabe ab (a.a.O. Vorbem. 3 VV Rn 208): Würde man zuerst gem. § 15 Abs. 3 RVG kürzen und danach erst anrechnen, würde die Anrechnung auch – wenngleich nur indirekt – eine Verfahrensgebühr erfassen, für die eine solche Kürzung mangels diesbezüglicher außergerichtlicher Tätigkeit nicht gerechtfertigt sei (so auch Enders a.a.O. 227).

Insbesondere das letztgenannte Argument überzeugt: Nimmt man zuerst die Kürzung bzw. Ermittlung der Kappungsgrenze i.V.m. § 15 Abs. 3 RVG vor, entsteht durch die nachfolgende Anrechnung eine (weitere) Benachteiligung für den Anwalt, weil die Anrechnung unmittelbar auch einen Teil erfasst, bezüglich dessen ein reduzierter Arbeitsaufwand nicht feststellbar ist.

2. Nach Auffassung des Senats ist in dem Fall, dass der Anwalt – wie hier – außergerichtlich Prozessauftrag bezüglich sämtlicher, aber auch der später zunächst nicht rechtshängig gewordenen Ansprüche hatte, keine andere Beurteilung gerechtfertigt. Auch dann ist die (um die anteilige Geschäftsgebühr zu mindernde) Verfahrensgebühr zeitlich früher entstanden als die reduzierte Verfahrensgebühr wegen der später mit verglichenen Ansprüche, weshalb § 15 Abs. 3 RVG nu...

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