Der Umfang der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung bestimmt sich grds. nach dem Beschluss über die Bestellung oder Beiordnung (§ 48 Abs. 1 RVG). Ausnahmen davon sind in § 48 Abs. 2 bis 6 RVG geregelt, die oftmals eine automatische Erstreckung der Beiordnung für bestimmte Tätigkeiten vorsehen, ohne dass es einer ausdrücklichen Beiordnung bedarf.

In Verfahren, in denen sich die Vergütung nach Teilen 4 bis 6 VV richtet, also insbesondere in Straf- und Bußgeldsachen, gilt die Regelung des § 48 Abs. 6 RVG. Wird in einem solchen Verfahren ein Rechtsanwalt im ersten Rechtszug bestellt oder beigeordnet, erhält er die Vergütung auch für seine Tätigkeit vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung, in Strafsachen einschließlich seiner Tätigkeit vor Erhebung der öffentlichen Klage und in Bußgeldsachen einschließlich der Tätigkeit vor der Verwaltungsbehörde (§ 48 Abs. 6 S. 1 RVG). Voraussetzung ist jedoch, dass der Anwalt diese Gebühren auch tatsächlich verdient hat, also z.B. im vorbereitenden Verfahren tägig war, da die Regelung nicht zur Erstattung fingierter Gebühren oder Auslagen führt.[15]

 

Beispiel

In einer Strafsache wird der Anwalt im vorbereitenden Verfahren tätig. In dem gerichtlichen Verfahren finden zwei Hauptverhandlungstermine statt. Der Anwalt wird dem Angeklagten im zweiten Termin als Pflichtverteidiger beigeordnet. Der Mandant hat sich nicht in Haft befunden.

Der Anwalt erhält aus der Staatskasse vergütet:

 
I. Vorbereitendes Verfahren
1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV 160,00 EUR
2. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV 132,00 EUR
3. Postpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
4. Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 59,28 EUR
Gesamt 371,28 EUR
 
II. Gerichtliches Verfahren
1. Verfahrensgebühr, Nr. 4106 VV 132,00 EUR
2. Terminsgebühr (1. Termin), Nr. 4108 VV 220,00 EUR
3. Terminsgebühr (2. Termin), Nr. 4108 VV 220,00 EUR
4. Postpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
5. Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 112,48 EUR
Gesamt 704,48 EUR
Gesamt I. + II. 1.075,76 EUR

Der Anwalt erhält aufgrund von § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch sämtliche Gebühren und Auslagen erstattet, die vor der Bestellung zum Pflichtverteidiger entstanden sind.

Umstritten ist allerdings der Anwendungsbereich von § 48 Abs. 6 S. 1 RVG. In der Lit. wird einhellig die Auffassung vertreten, dass die Regelung für sämtliche Anwälte gilt, die in einem von Teil 4 bis 6 VV erfassten Verfahren bestellt oder beigeordnet werden. Danach würde sie auch für im Rahmen von PKH beigeordnete Anwälte, z.B. Nebenklagevertreter, oder Zeugenbeistände gelten.[16] Diese Auffassung stützt sich auf eine Entscheidung des OLG Koblenz aus dem Jahr 2007,[17] die § 48 Abs. 6 S. 1 RVG[18] auch für den Nebenklagevertreter anwendet. In seiner Begründung hat das OLG Koblenz hinsichtlich der Anwendbarkeit dieser Regelung nicht viel ausgeführt, sondern nur dass § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auf den im Wege der PKH nach § 397a Abs. 1 StPO beigeordneten Rechtsanwalt wegen §§ 53 Abs. 1, 52 Abs. 1 RVG entsprechende Anwendung finde.

Das OLG Celle[19] ist dieser Auffassung jüngst entgegengetreten und hat sich gegen die Anwendung von § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auf den Nebenklagevertreter ausgesprochen.

In seiner detaillierten Begründung hat das OLG Celle zunächst ausgeführt, dass bereits die Regelungen in § 397a Abs. 2, 3 StPO, die auf die Regelungen für die PKH in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten verweisen, gegen eine Anwendung sprechen, da diese grds. einen Antrag auf PKH-Bewilligung voraussetzen und die Bewilligung nicht zurückwirke, zumindest allenfalls auf den Zeitpunkt der ersten Antragstellung auf PKH-Bewilligung. Zu beachten sei zudem, dass durch § 397a Abs. 2 S. 2 StPO die Regelungen in § 121 ZPO über die anwaltliche Beiordnung weitgehend außer Kraft gesetzt würden. Eine Bestellung des Nebenklägeranwalts sei weder durch die StPO noch durch die ZPO vorgesehen. Zudem sei durch § 406h Abs. 3, 4 StPO bereits im vorbereitenden Verfahren eine Beistandsbestellung bzw. PKH-Bewilligung vorgesehen. Zudem stützt sich das OLG Celle auf die Gesetzeshistorie, indem es darauf verweist, dass mit jetzt geltenden § 48 Abs. 6 S. 1 RVG eine Übernahme der in § 97 Abs. 3 BRAGO enthaltenen Regelung über die Rückwirkung der Bestellung zum Pflichtverteidiger übernommen werden sollte, die aber lange vor der Einführung des § 397a StPO eingeführt wurde.

Es bleibt abzuwarten, ob die Lit. und andere Rspr. dieser Auffassung folgt, die sich aus der gesetzlichen Regelung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG zwar nicht ergibt, deren Gründe jedoch beachtlich sind. Es kann deshalb im Hinblick auf die Rspr. des OLG Celle nur geraten werden, frühzeitig einen Antrag auf PKH-Bewilligung und Beiordnung zu stellen und sich nicht mehr zwingend auf die Rückwirkung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG zu verlassen.

[15] AnwK/RVG-Fölsch/Schafhausen/N. Schneider/Thiel, § 48 Rn 127.
[16] AnwK/RVG-Fölsch/Schafhausen/N. Schneider/Thiel, § 48 Rn 123; Gerold/Schmidt-Burhoff, 23. Aufl., § 48 Rn 197; Hartung/Schons/Enders, § 48 Rn 3.
[18] Damals noch § 48 Abs. 5 S. 1 RVG.
[19] OLG Celle AGS 2018, 35.

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