Rz. 65

Die Produkthaftung kann ihre rechtliche Grundlage auch in § 823 Abs. 2 BGB finden, soweit dem Hersteller ein Verstoß gegen ein im Bereich der Produktsicherheit geltendes Schutzgesetz zur Last zu legen ist. Ein Schutzgesetz liegt vor, wenn nach der Intention des Normgebers gerade auch der Geschädigte geschützt werden soll (Individualschutz). Weiter ist erforderlich, dass der konkrete Schaden innerhalb des Schutzzweckes der Norm liegt. Der Schutzbereich kann sich auf bestimmte Rechtsgüter beschränken: So schützt das ProdSG nicht das Vermögen, sondern allein Leben und Gesundheit der Produktbenutzer,[192] während das Futtermittelgesetz (aufgegangen im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch) auch den Zweck hatte, Vermögensschäden der Tierhalter zu vermeiden.[193] Nicht als Schutzgesetze gelten technische Regelwerke wie DIN-Normen, VDE-Bestimmungen oder auch berufsgenossenschaftliche Unfallverhütungsvorschriften.[194]

 

Rz. 66

Für die Schutzgesetzhaftung aus § 823 Abs. 2 BGB gilt eine Haftungsverschärfung im Bereich des Verschuldens: Das Verschulden des Produzenten muss sich nur auf den Verstoß gegen das Schutzgesetz beziehen, nicht hingegen auf die konkrete Verletzung eines bestimmten Schutzgutes; dabei hat, wenn der objektive Tatbestand der Schutzgesetzverletzung feststeht, der Verletzer Umstände darzulegen und zu beweisen, die gegen sein Verschulden sprechen.[195] Ausreichend ist also der schuldhafte Verstoß gegen die Verhaltensvorschrift, der dann im weiteren Verlauf zu einer Schutzgutverletzung führt. Auch der Kausalitätsnachweis ist erleichtert: Soll das Schutzgesetz einer typischen Gefährdungslage entgegenwirken und hat sich gerade diese Gefährdung realisiert, spricht ein Anscheinsbeweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schutzgesetzverstoß und Rechtsgutverletzung.[196]

 

Rz. 67

Die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB hat im Produkthaftpflichtbereich erhebliche Bedeutung, zumal die Zahl der Normen, die den Schutz vor Produktgefahren bezwecken und daher als Schutzgesetz in Betracht kommen, ständig ansteigt. Die nachfolgende Darstellung greift daher lediglich exemplarisch einige Sachverhaltskomplexe heraus:[197]

 

Rz. 68

Normen mit Schutzgesetzcharakter i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB enthält insbesondere das am 1.12.2011 in Kraft getretene Produktsicherheitsgesetz, das an die Stelle des Geräte- und Produktsicherheitsgesetz[198] getreten ist und darüber hinaus eine Reihe von produkt- oder produktgattungsbezogenen EU-Richtlinien umsetzt. Es betrifft Produkte, nämlich Waren, Stoffe oder Zubereitungen, die durch einen Fertigungsprozess hergestellt worden sind (§ 2 Nr. 22 ProdSG); vom Anwendungsbereich ausgenommen sind gemäß § 1 Abs. 3 ProdSG u.a. Lebens- und Futtermittel, Pflanzenschutzmittel und Medizinprodukte, nicht jedoch Arzneimittel. Weitergehende Vorschriften in anderen Gesetzen werden nicht verdrängt (§ 1 Abs. 4 ProdSG). Das ProdSG enthält zwar in erster Linie öffentlich-rechtliche Eingriffsbefugnisse, aufgrund derer die zuständigen Behörden im Rahmen der Gefahrenabwehr verhindern sollen, dass schädigende Produkte in den Verkehr gelangen bzw. im Verkehr bleiben (§§ 24 ff. ProdSG), und keine Haftungsbestimmungen. Insbesondere in § 3 Abs. 1 und 2 ProdSG werden aber Verhaltensanforderungen statuiert (in § 6 Abs. 5 ProdSG auch für Händler) und ein Verstoß hiergegen kann über § 823 Abs. 2 BGB haftungsbegründend wirken. Durch harmonisierte Normen oder sonstige Normen und andere technische Spezifikationen (§§ 4, 5 ProdSG) wird ein sicherheitstechnischer Mindeststandard vorgegeben. Zusätzlich bestimmt § 3 ProdSG, dass es auch bei Erfüllung dieses Standards nicht zu einer Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit von Personen kommen darf. Die Anforderungen des ProdSG sind jedenfalls nicht strenger als die zu § 823 Abs. 1 BGB entwickelten Standards); zu einer strengeren Haftung als nach der allgemeinen deliktischen Produkthaftung kommt es daher nicht.[199] Eine Haftungsverschärfung bewirkt das ProdSG allerdings für Quasihersteller, die gemäß § 2 Nr. 14 ProdSG als Hersteller gelten, und Importeure aus Nicht-EU-Staaten: Diese stellen gemäß § 2 Nr. 8, Nr. 15 ProdSG wie der Hersteller Produkte erstmals auf dem Markt bereit, was die Sicherheitspflichten des § 3 ProdSG auslöst und über § 823 Abs. 2 BGB zur deliktischen Produktverantwortung führt.[200] Der Schutzbereich ist auf die Rechtsgüter "Sicherheit und Gesundheit von Personen" (§ 3 Abs. 1 und 2 ProdSG) beschränkt, Sach- und Vermögensschäden sind nicht erfasst.

 

Rz. 69

§ 26 Abs. 2 Nr. 7 und 9 ProdSG verleihen der Marktaufsichtsbehörde die Befugnis, die Rücknahme oder den Rückruf eines auf dem Markt bereitgestellten Produkts oder eine öffentliche Produktwarnung anzuordnen. Kontrovers diskutiert wird, ob diese Bestimmungen als Schutzgesetz zu qualifizieren sind. Freilich entsteht eine Rückrufverpflichtung nach dem ProdSG nicht ipso jure, sondern es bedarf einer die Ermächtigungsnorm umsetzenden behördlichen Anordnung: Erst das Nichtbefolgen dieser Anordnun...

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