Rz. 110

Die auf den Abschluss eines Arbeitsvertrages gerichteten Willenserklärungen können gem. §§ 119 f., 123 BGB angefochten werden, wenn ein Anfechtungsgrund vorliegt.[86] Der Anfechtung kommt im Ergebnis eine der außerordentlichen Kündigung i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB entsprechende Wirkung zu. Während sich allerdings letztere nach den Verhältnissen im Zeitpunkt ihres Ausspruches beurteilt und wegen der notwendigen Interessenabwägung eher zukunftsbezogen ist, stellt der Anfechtungsgrund auf die Sachlage bei Abgabe der Willenserklärung ab und ist vergangenheitsbezogen. Trotz der Unterschiede hinsichtlich ihrer Voraussetzungen sind Anfechtung und Kündigung des Arbeitsvertrages hinsichtlich des Erklärungstatbestandes und ihrer Rechtswirkung weitgehend gleich. Beides sind einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärungen mit Gestaltungswirkung. Ist das Arbeitsverhältnis bereits in Vollzug gesetzt worden, so hat die Anfechtung laut Rechtsprechung grundsätzlich die kündigungsähnliche Wirkung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses für die Zukunft. Die Anfechtung erfolgt also abweichend von der gesetzlichen Regelung des § 142 Abs. 1 BGB nicht rückwirkend (ex tunc), sondern nur ab Zugang der Anfechtungserklärung (ex nunc). Abweichendes gilt nur, wenn das Arbeitsverhältnis, z.B. aufgrund Krankheit des Arbeitnehmers, nicht praktiziert wurde bzw. – so die Worte des BAG – "außer Funktion" gestanden hat.[87] Soweit die Anfechtung demnach nur für die Zukunft (ex nunc) greift, gelten für die Vergangenheit die Regeln über das sog. fehlerhafte Arbeitsverhältnis, das nicht mehr rückwirkend beseitigt werden kann.[88]

 

Rz. 111

Aufgrund des klaren Gesetzeswortlauts besteht trotz dieser Parallelen für die Anfechtung (auch des bereits vollzogenen Arbeitsvertrages) kein konstitutiv wirkendes Schriftformerfordernis gem. § 623 BGB; dementsprechend ist auch die elektronische Form in diesem Fall nicht ausgeschlossen.[89] Auch die Drei-Wochen-Klagefrist des § 4 KSchG muss nicht eingehalten werden, wenn bspw. der Arbeitgeber den bereits vollzogenen Arbeitsvertrag nach § 119 BGB wegen Irrtums angefochten hat und der Arbeitnehmer wegen Unwirksamkeit der Anfechtung das Bestehen des Arbeitsverhältnisses geltend machen will.[90]

[86] BAG 21.2.1991 – 2 AZR 449/90, NZA 1991, 719; HWK/Thüsing, § 119 BGB Rn 1.
[87] BAG 16.9.1982 – 2 AZR 228/80, AP Nr. 24 zu § 123 BGB; BAG 3.12.1998 – 2 AZR 754/97, AP Nr. 49 zu § 123 BGB; ErfK/Preis, § 611a BGB Rn 368 f.
[88] HWK/Thüsing, § 119 BGB Rn 15; a.A. Preis/Gotthardt, NZA 2000, 350.
[89] HWK/Bittner/Tiedemann, § 623 BGB Rn 19; ErfK/Müller-Glöge, § 623 BGB Rn 3b; Rolfs, NJW 2000, 1227; a.A. Sander/Siebert, AuR 2000, 334.
[90] BAG 21.9.2017 – 2 AZR 57/17, NZA 2017, 1524 Rn 22; ErfK/Kiel, § 4 KSchG Rn 3.

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