Rz. 6

Dennoch kann bei falscher Interpretation der Schilder ein Verbotsirrtum vorliegen. Dieser lässt zwar ein Regelfahrverbot nicht per se entfallen. Wurde der Irrtum aber gerade durch ein Augenblicksversagen begründet – mithin also wegen einer momentanen Unaufmerksamkeit bzw. in einem kurzzeitigen Fehlverhalten, wie es auch dem sorgfältigen und pflichtbewussten Kraftfahrer unterlaufen kann – so kann im konkreten Einzelfall ein Fahrverbot erlassen werden.[11] Das Augenblicksversagen wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung jedoch zunehmend restriktiv angenommen, jedenfalls wenn die Fahrsituation eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert.[12]

 

Rz. 7

Ein gewichtiges objektives Argument für die Bemessung der Rechtsfolge ist die Unfallträchtigkeit der konkreten Messsituation. Wenngleich die Zahl der geschwindigkeitsbedingten Unfälle rückgängig ist, wird immer noch mehr als ein Drittel aller Unfalltoten durch unangepasste Geschwindigkeit verursacht.[13] Entsprechend ist die Unfallgefahr in den Polizeirichtlinien länderübergreifend das maßgebliche Kriterium für die Auswahl der Messörtlichkeit. Diese Richtlinien stellen an sich nur Verwaltungsinterna dar, welche die Feststellung und Ahndung von Geschwindigkeitsverstößen regeln. Ein Richtlinienverstoß führt also nicht zur Unverwertbarkeit der Messung. Sie sichern jedoch auch die Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer in vergleichbaren Kontrollsituationen. Daher hat das Gericht im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Abweichung von der Richtlinie begründet war. War sie es nicht, liegt eine Ausnahme vom Regelfall der BKatV vor, welche den Wegfall eines Fahrverbotes rechtfertigt.[14]

 

Rz. 8

Auch wird in den Richtlinien regelmäßig gefordert, dass 150–200 m vor bzw. hinter der Ortstafel nicht gemessen werden soll. Eine Abweichung hiervon ist ebenfalls zunächst auf ihre sachliche Rechtfertigung und auf Ermessensfehlerfreiheit hin gerichtlich zu erörtern. Erst danach kann das Gericht über eine Abmilderung der Rechtsfolge entscheiden.[15]

Hierauf hat der Verteidiger bereits im Vorfeld hinzuwirken und die entsprechenden Beweisanträge zu stellen. Dabei soll jedoch nicht vergessen werden, dass von den grundsätzlichen Entfernungsangaben in den Richtlinien stets aus sachlichem Grund abgewichen werden kann.

 

Rz. 9

Die Übersicht sämtlicher Polizeirichtlinien findet sich im Anhang. Dort werden neben den Kriterien zur Messstellenauswahl auch Begriffe, zulässige Toleranzen für Gerätefehler und Geschwindigkeit sowie zahlreiche weitere Anforderungen an die Messung näher bestimmt.

 

Rz. 10

 

Praxistipp

Die Messung ist stets mit der jeweils einschlägigen Richtlinie abzugleichen. Abweichungen sind im Einspruchsverfahren möglichst frühzeitig – spätestens beim Amtsgericht – zu monieren.

Oft weichen (kommunale) Messbeamte mit der Argumentation aus, dass die Messstellen nach behördlichen Vorgaben ausgewählt wurden, über deren Zustandekommen und über deren Richtlinienkonformität sie nichts wüssten.

Hier ist das Gericht auf die gebotene umfassende Aufklärung von Rechtfertigungsgründen und Ermessensfehlern hinzuweisen. Gegebenenfalls sind im Hinblick auf das Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechende Anträge zu stellen.

[11] OLG Bamberg, Beschl. v. 11.7.2007 – 3 Ss OWi 924/07, Rn 22, juris; OLG Bamberg, Beschl. v. 27.1.2017 – 3 Ss OWi 50/17, Rn 13, juris = VA 2017, 122 = NZV 2017, 391.
[12] BayObLG, Beschl. v. 17.9.2019 – 201 ObOWi 1580/19, Rn 10, juris = OLGSt StG § 25 Nr. 79.
[13] Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes v. 12.7.2016 – 242/16, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/07/PD16_242_46241pdf.pdf?__blob=publicationFile.
[14] OLG Dresden, Beschl. v. 27.8.2009 – Ss (OWi) 410/09, Rn 9, juris = DAR 2010, 29; OLG Celle, Beschl. v. 25.7.2011 – 311 SsRs 114/11, Rn 11, juris = DAR 2011, 597 = NZV 2012, 253; OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.2.2011 – 2 Ss 8/11, Rn 9, juris = DAR 2011, 220; aber: es ist auf die aktuell gültige Verwaltungsvorschrift abzustellen: OLG Stuttgart, Beschl. v. 4.7.2011 – 4 Ss 261/11, juris = DAR 2011, 599 = NZV 2012, 96; vgl. auch: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.2018 – 2 Rb 9 Ss 794/17, Rn 4, juris = zfs 2018, 353.

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