Rz. 102

Der Geschädigte hat die Möglichkeit, ein Wahlrecht auszuüben. Beansprucht er Schadensersatz, ohne eine konkrete Reparaturrechnung vorzulegen, rechnet er fiktiv ab. Dabei kann er jedoch nach dem seit 1.8.2002 geltenden § 249 Abs. 2 S. 2 BGB keine Mehrwertsteuer mehr ersetzt verlangen (vgl. im Einzelnen Rdn 417 ff.).

 

Rz. 103

 

Anmerkung

Bei den Verkehrsjuristen hat sich der Begriff "fiktiver Schaden" und "fiktive Schadensberechnung" eingebürgert. Dogmatisch richtiger wäre jedoch der Begriff "normativer Schaden" und "normative Schadensberechnung".

 

Rz. 104

Es gibt viele Gründe, fiktiv abzurechnen:

Der Geschädigte will das Fahrzeug überhaupt nicht reparieren lassen, sondern es in beschädigtem Zustand weiterbenutzen;
er will es nicht reparieren lassen, sondern sich ein anderes oder neues Fahrzeug zulegen;
er will das Fahrzeug in Eigenreparatur wiederherstellen;
er will es kostengünstiger in einer preisgünstigen Werkstatt reparieren lassen;
er will es nur notdürftig, teilweise, zu einem späteren Zeitpunkt oder durch fachkundige Freunde reparieren lassen.
 

Rz. 105

All das ist ihm unbenommen. Der Geschädigte hat gem. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB Anspruch auf den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag. Von einer Verpflichtung zur sachgebundenen Verwendung dieses Betrages ist im Gesetz keine Rede. Auch eine Wirtschaftlichkeitsprüfung darf dem Geschädigten nicht das Recht streitig machen, den Schaden in eigener Regie beheben zu lassen, ohne dass ihm der Schädiger in die Art und Weise der Reparaturausführung hineinredet (Steffen, Der normative Verkehrsunfallschaden, zfs 1995, 362).

a) Grundsatz der Dispositionsfreiheit

 

Rz. 106

Der BGH hat in ständiger Rechtsprechung zur fiktiven Schadensberechnung seit dem Urteil in NJW 1976, 1390, erneut grundlegend in dem Urt. v. 20.6.1989 (NJW 1989, 3009 ff.; zfs 1989, 299; DAR 1989, 340) festgeschrieben, dass der Geschädigte als Folge seiner Dispositionsfreiheit immer zur fiktiven Schadenabrechnung berechtigt ist. Dem sind seitdem alle Obergerichte gefolgt (z.B. OLG Frankfurt zfs 1994, 50; OLG Hamm zfs 1993,10 f.; OLG Koblenz DAR 2015, 462). Die dogmatisch kaum ernst zu nehmende zwischenzeitlich vertretene Auffassung, dass aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung durch den VII. Zivilsenat des BGH (BGH NJW 2018, 1463) für das Werkvertragsrecht – nämlich die für den sogenannten kleinen Schadensersatzanspruch aufgegebene Abrechnungsmöglichkeit auf fiktiver Basis – generell die Möglichkeit der fiktiven Abrechnung aufgegeben worden sei (LG Darmstadt zfs 2019, 24 – nicht rechtskräftig), ist inzwischen durch die Berufungsinstanz als offensichtlich verfehlt aufgehoben worden (OLG Frankfurt v. 14.11.2019 – 22 U 177/18); vgl. hierzu auch die oben in der "Literatur zur fiktiven Abrechnung" (vor Rn 101) genannten jüngsten Aufsätze. Inzwischen hat auch der Arbeitskreis II des 58. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2020 "nahezu einstimmig" empfohlen, dass an der Möglichkeit der fiktiven Abrechnung eines Sachschadens aufgrund eines Verkehrsunfalls festzuhalten ist und die geänderte Rechtsprechung des BGH zur fiktiven Abrechnung von Mangelbeseitigungskosten im Werkvertragsrecht nicht auf die Abrechnung von Verkehrsunfallschäden übertragen werden soll.

 

Rz. 107

Überobligationsmäßige Verzichte des Geschädigten entlasten nämlich den Schädiger nicht. Danach braucht der Geschädigte weder nachzuweisen, ob, noch in welchem Umfang er sein Unfallfahrzeug (oder auch die sonst noch beschädigten Gegenstände) hat reparieren lassen. Der BGH bejaht damit eine absolute Dispositionsfreiheit als "magna charta des Geschädigten" (Steffen, zfs 1995, 401).

 

Rz. 108

Vielmehr kann sich der Geschädigte damit begnügen, ein Gutachten eines Kfz- Sachverständigen oder (bei Kleinschäden) einen Kostenvoranschlag vorzulegen und auf dieser Basis abzurechnen. Damit kann der Schaden auf einem an sich einfachen, kostengünstigen und Streit vermeidenden Weg (Steffen, zfs 1995, 401) abgerechnet werden, noch bevor das Kraftfahrzeug repariert ist.

 

Rz. 109

Vgl. zur Problematik der Stundenverrechnungssätze die Ausführungen unten (siehe Rdn 146 ff.).

b) Pflicht zur Vorlage der Reparaturrechnung

 

Rz. 110

Seitens der Versicherer und einiger Gerichte (z.B. OLG Köln zfs 1988, 171) wird nun oft die – unzutreffende – Rechtsauffassung geäußert, der Geschädigte könne jedenfalls dann nicht fiktiv abrechnen, wenn er tatsächlich habe reparieren lassen und demnach eine Reparaturrechnung vorlegen könnte. Er sei dann auch verpflichtet, die Reparaturrechnung vorzulegen (so OLG Hamm NZV 2017, 582).

 

Rz. 111

Meistens verweigern übrigens die Versicherer bei Nichtvorlage der Rechnungen nicht etwa die Bezahlung der Reparaturkosten, sondern den Ausgleich des Nutzungsausfalls oder der Mietwagenkosten, den sie von der Rechnungsvorlage abhängig machen. Was hat aber die Vorlage der Reparaturrechnung mit dem Ausgleich des Nutzungsausfalls oder der Mietwagenkosten zu tun, wenn die tatsächliche Reparatur auf anderem Wege (z.B. aufgrund einer Nachbesichtigung des Sachverständigen) nachgewiesen wird?

 

Rz. 112

Gelegentlich wird auch die Auffassung ver...

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