Rz. 1

Nach leichten Auffahrunfällen steht die Schuldfrage meistens nicht im Vordergrund. Hier geht es in der Regel darum, ob die Insassen in dem angestoßenen Fahrzeug eine Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule erlitten haben können und ob hierfür die Zahlung eines Schmerzensgeldes gerechtfertigt ist. In solchen Fällen ist zunächst die biomechanische Insassenbelastung zu ermitteln. Auf dieser Basis kann anschließend ein medizinischer Experte die Verletzungswahrscheinlichkeit bzw. das Verletzungsausmaß beurteilen.

 

Rz. 2

Für die Berechnung der biomechanischen Belastungshöhe ist zunächst die relative Anstoßkonstellation der Fahrzeuge zu ermitteln. Hierfür ist es unabdingbar, geeignetes Fotomaterial von möglichst beiden Unfallfahrzeugen zu erhalten. Da der Heckschaden am angestoßenen Fahrzeug in der Regel von der Versicherung des Auffahrenden reguliert wird, gibt es in den meisten Fällen ein Schadengutachten. Sofern für den auffahrenden Pkw keine Kaskoversicherung eintritt, wird der Halter des auffahrenden Fahrzeuges für seinen Schaden selbst aufkommen müssen und daher kein teures Schadengutachten in Auftrag geben. Deshalb ist es oft schwierig, an geeignetes Fotomaterial des Auffahrenden zu gelangen.

 

Rz. 3

Einen gut dokumentierten, typischen Auffahrunfall zeigt die Abb. 7.1. Hier fuhr ein Nissan Micra auf das Heck eines VW Passat, der nach dem Unfall vor dem Nissan zum Stehen kam. Da der Nissan noch nicht mit einem ABS-System ausgestattet war, ist eine deutliche Bremsspur gezeichnet worden. Zudem zerbarsten die Scheinwerfergläser am Nissan und hinterließen ein Splitterfeld auf der Fahrbahn. Die Schäden an beiden Fahrzeugen sind ebenfalls dokumentiert worden, zumindest äußerlich.

Abb. 7.1

Hierdurch ist jedoch noch nicht gewährleistet, dass die Schadenintensität auch zutreffend beurteilt werden kann. Mittlerweile sind die eigentlichen Deformationselemente hinter großflächigen Stoßfängerverkleidungen verborgen. Den grundsätzlichen Heckaufbau der Fahrzeuge im Beispiel sieht man erst, wenn die Verkleidung abgebaut ist (siehe Abb. 7.2). Der VW ist mit einem massiven Querträger aus Stahl ausgestattet. Der Nissan weist nur im unteren Bereich eine Querverstrebung zwischen den Längsträgern auf, die aber vorliegend zu tief angeordnet ist, um Deformationsenergie aufzunehmen.

Abb. 7.2

Um die Schadenschwere am VW Passat einstufen zu können, wurde auf Crashversuche mit einem ähnlich aufgebauten VW Golf zurückgegriffen, die in Abb. 7.3 gezeigt werden. Die beiden oberen Fotos wurden nach einem Wandanprallversuch mit einer Geschwindigkeit von rund 5 km/h aufgenommen. Den unteren Fotos ist ein Versuch mit einer Geschwindigkeit von rund 7 km/h vorangegangen. Dem äußeren Erscheinungsbild ist dies nicht zu entnehmen, obwohl die nachträglich berechnete Deformationsenergie im zweiten Versuch mehr als doppelt so hoch war. Im Prinzip könnte man meinen, es handele sich um die gleichen Bilder, nur aus minimal anderer Perspektive. D.h., die montierte Stoßfängerverkleidung lässt es nicht zu, den eigentlichen Schaden am Fahrzeug zu beurteilen.

Abb. 7.3

 

Rz. 4

Wenn das Schadenbild des auffahrenden Pkw zudem nicht bekannt ist, so ist die Insassenbelastung nicht mehr in engen Grenzen zu ermitteln. Somit könnten Schmerzensgeldansprüche möglicherweise nicht durchgesetzt werden. Deshalb ist anzuraten, auch den Schaden am auffahrenden Pkw unmittelbar nach dem Unfall zu fotografieren. In Zeiten von Handy-Kameras dürfte dies kein großer Aufwand sein.

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