Rz. 98

Anders als in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG sind Betriebsrat und Insolvenzverwalter nicht verpflichtet, auch die Schwerbehinderung von Arbeitnehmern zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO, der auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten abstellt. Dies verstößt weder gegen die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG noch gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, da die Richtlinie lediglich eine weniger günstige Behandlung verbietet, die nicht vorliegt, wenn alle Arbeitnehmer im Rahmen der Sozialauswahl wie alle anderen behandelt werden, und insofern auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ausgeschlossen ist (MüKo-InsO/Caspers, InsO, § 125 Rn 91).

 

Rz. 99

Weder der Gesetzeswortlaut des § 1 Abs. 3 KSchG noch die Gesetzesbegründung lassen konkrete Anhaltspunkte dafür erkennen, wie die vier im Gesetz genannten sozialen Kriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung gegeneinander zu gewichten sind. Dies bedeutet, dass gerade bei der Gewichtung der Sozialdaten der Beurteilung durch die Betriebspartner eine entscheidende Bedeutung zukommt. Nach der Rspr. kommt keinem der im Gesetz genannten Auswahlkriterien eine Priorität ggü. den anderen zu (BAG v. 29.1.2015, NZA 2015, 426; BAG v. 2.6.2005 – 2 AZR 480/04, NJW 2006, 315, 318 = NZA 2006, 207, 210; BAG v. 9.11.2006, NJW 2007, 2429 = NZA 2007, 549). I.d.R. wird jedoch zunächst die Betriebszugehörigkeit und dann das Lebensalter berücksichtigt (BAG v. 18.10.1984, AP KSchG 1969 § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 6; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 338). Zwingend ist diese Gewichtung indes nicht. Der Betriebszugehörigkeit kommt keine Priorität ggü. den weiteren Kriterien Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung zu (BAG v. 2.12.1999 – 2 AZR 757/98, ZIP 2000, 676 = NZA 2000, 531). Dem Arbeitgeber steht für die Gewichtung der in die Auswahl einzubeziehenden Sozialdaten ein Wertungsspielraum zu. Für eine ordnungsgemäße, nicht zu beanstandende Sozialauswahl genügt es daher, wenn alle vier Kriterien ausreichend berücksichtigt werden (BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791). Fehlerhaft ist die Sozialauswahl danach nur dann, wenn unter Berücksichtigung aller vier Faktoren einem sozial deutlich schutzwürdigeren Arbeitnehmer gekündigt wird (BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, BAGReport 2003, 195 = NZA 2003, 791; BAG v. 2.6.2005, NJW 2006, 315, 318 = NZA 2006, 207, 211; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 678g–i).

 

Rz. 100

Die Gewichtung der Sozialdaten untereinander kann anhand einer Punktetabelle erfolgen (BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139 = DB 2006, 2823). Insb. bei Massenentlassungen ist eine Gewichtung der Sozialdaten anhand einer solchen Tabelle zu empfehlen, zumal nach der Beschränkung der Sozialauswahl auf die vier in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG genannten gesetzlichen Kriterien bei Verwendung einer Punktetabelle eine individuelle Abschlussprüfung nicht mehr erforderlich ist (BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549). Die Verwendung einer Punktetabelle nach § 95 Abs. 1 BetrVG bedarf zwar der Zustimmung des Betriebsrats, eine unterbliebene Beteiligung führt aber nicht zur Unwirksamkeit der nachfolgenden Kündigung (vgl. BAG v. 26.7.2005 – 1 ABR 29/04, NZA 2005, 1372 = DB 2005, 2530). Ist eine Auswahlrichtlinie – die sowohl auf einem Tarifvertrag als auch auf einer Betriebsvereinbarung beruhen kann – Grundlage für eine Punktetabelle, kann die anhand der Tabelle vorgenommene soziale Auswahl gem. § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit geprüft werden. Das BAG hat bislang unter anderem folgende Punkteschemata gebilligt:

(1) BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, NZA1990, 729; BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, NZA 2014, 46:

 
Alter: 1 Punkt pro vollendetem Lebensjahr (max. 55 Punkte)
Betriebszugehörigkeit:

1 Punkt pro vollendetem Jahr der Betriebszugehörigkeit bis 10 Dienstjahre

vom 11. Dienstjahr an 2 Punkte pro vollendetem Jahr der Betriebszugehörigkeit

(max. 70 Punkte)
Unterhaltspflichten:

4 Punkte je unterhaltsberechtigtem Kind,

8 Punkte für unterhaltsberechtigte Ehegatten
Schwerbehinderung:

5 Punkte bei Schwerbehinderung von 50 %,

über 50 % jeweils 1 Punkt für 10 %

(2) BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 533/99, NZA 2001, 601

 
Alter:

bis zu 20 Jahren: 0 Punkte,

bis zu 30 Jahren: 1 Punkt,

bis zu 40 Jahren: 3 Punkte,

bis zu 50 Jahren: 6 Punkte,

bis zu 57 Jahren: 8 Punkte,

über 57 Jahren: 10 Punkte
Betriebszugehörigkeit: 1 Punkt pro Jahr der Betriebszugehörigkeit
Unterhaltspflichten:

3 Punkte je Ehegatte und

3 Punkte für jedes Kind, das im Orts- oder Sozialzuschlag Berücksichtigung findet

(3) BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139

 
Alter: 1 Punkt je vollendetem Lebensjahr (max. 55 Punkte)
Betriebszugehörigkeit:

1,5 Punkte für jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit bis zu 10 Jahren,

2 Punkte ab dem 11. Jahr für jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit (max. 75 Punkte)
Unterhaltspflichten:

5 Punkte je kindergeldberechtigtes Kind,

4 Punkte für verheiratete Arbeitnehme...

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