Rz. 126

Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist grundsätzlich nicht zulässig. Eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache ist allerdings möglich, wenn auf andere Weise kein effektiver Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gewährleistet werden kann. Eine derartige Vorwegnahme kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es für den ASt. schlechthin unzumutbar ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Über diese besondere Dringlichkeit hinaus müssen überwiegende Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegeben sein. Beide Voraussetzungen müssen glaubhaft gemacht werden.[194]

 

Rz. 127

Eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache ist mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG im Fahrerlaubnisrecht für die Fälle anerkannt, in welchen die andernfalls für den ASt. zu erwartenden Nachteile unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht (mehr) zu beseitigen wären und überdies ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. Angesichts der zur Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs gebotenen Vorgaben des Fahrerlaubnisrechts ist im Hinblick auf die Erfolgsaussicht in der Hauptsache darüber hinaus zu fordern, dass zumindest hinsichtlich der Beurteilung der Kraftfahreignung eine andere als die mit der einstweiligen Anordnung vorläufig erstrebte Entscheidung auch in der Hauptsache ausgeschlossen erscheint bzw. diesbezüglich eine an Sicherheit grenzende Aussicht auf Erfolg besteht.[195]

 

Rz. 128

 

Fälle

Der Antrag, die Fahrerlaubnisbehörde im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, dem ASt. (nach §§ 8, 15c StVZO a.F.) eine FE zu erteilen, ohne zuvor eine medizinisch-psychologische Untersuchung durchführen zu lassen, liefe auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache hinaus. Dem ASt. ist es nicht schlechthin unzumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Neben der fehlenden besonderen Dringlichkeit fehlt es hier auch an der überwiegenden Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Dazu genügt es nämlich nicht, dass die Entziehung der FE als erhebliche Belastung im privaten Bereich empfunden wird.[196]
Die Neuerteilung der FE im Wege der einstweiligen Anordnung schon vor einer Entscheidung in der Hauptsache hat auch der VGH BW grundsätzlich abgelehnt,[197] auch wenn anzuerkennen ist, dass der Besitz der FE es ermöglicht, unter erleichterten Bedingungen familiäre und soziale Kontakte zu pflegen. Sie ist jedenfalls nicht erforderlich, um den ASt. vor schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen zu bewahren.[198]
Nach § 11 Abs. 10 FeV kann unter den Voraussetzungen der dort aufgeführten Nr. 1–3 der Nachweis der Wiederherstellung der Fahreignung statt durch eine erneute medizinisch-psychologische Begutachtung, durch Teilnahme an einem Kurs nach § 70 FeV geführt werden. Ist in einem Gutachten nachvollziehbar ausgeführt und begründet, dass die Art der beim Betroffenen aufgezeigten Eignungsmängel die Möglichkeit eröffnet, die noch feststellbaren Defizite durch einen anerkannten und evaluierten Rehabilitationskurs entsprechend § 70 FeV zu beseitigen, so hat der Betroffene in der Regel einen Anspruch auf eine vorherige Zustimmung der Fahrerlaubnisbehörde i.S.d. § 11 Abs. 10 Nr. 3 FeV. Diese Begehren kann auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemacht werden, ohne dass sich der Betroffene auf ein Wiedererteilungsverfahren verweisen lassen muss. Dies bedeutet keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.[199]
Dem Wesen und Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht in einem solchen Verfahren grundsätzlich zwar nur vorläufige Regelungen treffen und dem ASt. nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit oder unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie von Art. 19 Abs. 4 GG gilt dies aber dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Klärung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den ASt. unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. Diese Voraussetzungen können dann erfüllt sein, wenn aus der schriftlichen Mitteilung eines Betriebes glaubhaft gemacht ist, dass dem ASt. noch innerhalb der Probezeit die Kündigung seines Ausbildungsverhältnisses droht, wenn er nicht alsbald über eine FE verfüge. Er sei von Berufswegen (im Fall: Kfz-Mechatroniker) zwingend auf die FE angewiesen. Es ist dem ASt. in einem solchen Fall wegen dieser unmittelbar drohenden sozialen Notlage nicht zumutbar, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.[200]
Eine Ausnahme vom Verbot, die Hauptsache vorwegzunehmen hat das OVG NRW bei einem nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO gestellten Antrag auf Wiedererteilung der FE zur Fahrgastbeförderung angenommen, da dieser Anspruch ansonsten in angemessener Zeit nicht...

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