Rz. 109

Von der oben (siehe Rdn 82 ff.) beschriebenen Situation einer gesetzlich geregelten Gefahrenvorsorge, die, unter engen Grenzen und vom Aufgabenbereich der Gefahrenabwehr erfasst, eine Videoüberwachung öffentlicher Räume zulässt, und von der zuvor dargestellten anlassbezogenen Verkehrskontrolle, ist aber die Situation zu unterscheiden, in der anlassfrei Fahrzeuge per Videokamera aufgezeichnet werden. Dabei "erfolgt eine durchgehende, verdachtsunabhängige Foto- bzw. Videographie aller Verkehrsteilnehmer zum Zwecke der späteren Auswertung und Zuordnung etwaiger Verkehrsverstöße".[232] Über stationäre Brückenmessverfahren werden mit Videokameras ein bestimmter Fahrbahnabschnitt kontinuierlich aufgezeichnet und alle jeweiligen Fahrzeugführer und Kennzeichen dokumentiert. Hinterher erfolgt eine Auswertung, die Abstands- und Geschwindigkeitsverstöße errechnet. Da der Fahrbahnabschnitt permanent und kontinuierlich aufgezeichnet wird, wird auch der rechtstreue Fahrer mit seinem Fahrzeug erfasst. Er hat keine Möglichkeit sich dieser Erhebung und Speicherung seiner Daten zu entziehen. Eine Löschung erfolgt erst später.[233]

 

Rz. 110

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte und Lebenswege offenbart werden. Insofern setzt die freie Entfaltung der Persönlichkeit, vor allem auch unter Berücksichtigung der modernen Bedingungen und Möglichkeiten der Datenverarbeitung, den Schutz des Einzelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner auf ihn bezogenen individualisierten oder individualisierbaren Daten voraus. Dabei garantiert das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über das "Ob" und "Wie" der Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.[234] Zu diesem persönlichen Bereich gehört auch die Aufzeichnung von Lebens- und Verhaltenswegen des Einzelnen.

 

Rz. 111

Bereits die Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre zum Zwecke der Gefahrenvorsorge bedürfen einer besonderen gesetzlichen Regelung, weshalb beispielsweise ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel nicht ausreicht.[235] So muss sich bei der oben (siehe Rdn 82 ff.) beschriebenen Videoüberwachung, ein gewisses "Gefährdungspotenzial und eine gewisse potenzielle Gefährlichkeit des überwachten Ortes ergeben", um ereignis- und verdachtsunabhängige Maßnahmen der Datenerhebung im Vorfeld konkreter Gefahren zur Bekämpfung von Straftaten zu rechtfertigen.[236]

 

Rz. 112

Eine von konkreten Verdachtsmomenten unabhängige, allein auf sog. polizeiliche Lageerkenntnisse gestützte Befugnis, Personen zu kontrollieren, ist mit Blick auf die Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität und den gleichzeitigen Abbau der Binnengrenzkontrollen zum Anlass genommen worden, in Landespolizeigesetzen entsprechende Ermächtigungsgrundlagen für Kontrollen einzuführen (vgl. z.B. § 9a SaarlPolG, § 14 SachsAnhSOG).[237] Bereits derartige Ermächtigungsgrundlagen begegnen Kritik,[238] weil sie Kontrollbefugnisse gegenüber jedermann, und zwar ohne konkrete Gefahr oder Störung ermöglichen.

 

Rz. 113

Völlig anlassfreie Kontrollen durch Videoüberwachung gehen noch weiter. Sie lassen sich noch nicht einmal unter den Begriff der Gefahrenvorsorge subsumieren. Sie entbehren darüber hinaus auch einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die Eingriffvoraussetzungen und auch den Umgang mit dem so erlangten Videomaterial regeln würde. Konsequenterweise gibt es auch keine Zuständigkeitsregelungen. Anlassfreie Kontrollen, durch die ganze Bewegungsprofile grundsätzlich unverdächtiger Verkehrsteilnehmer aufgezeichnet und auch nachgezeichnet werden können, sind daher unzulässig.

 

Rz. 114

Die Verwertung verdachtsunabhängig zur Verkehrsüberwachung und insbesondere zur Abstandsmessung von Autobahnbrücken gemachter Videoaufzeichnungen ist verfassungswidrig. Die mittels Verkehrskontrollsystem Typ VKS 3.0 gefertigten Videoaufzeichnungen stellen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar und verletzen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Für diesen Grundrechtseingriff bedarf es einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage; lediglich verwaltungsinterne Anweisungen reichen nicht aus.[239] ,[240]

 

Rz. 115

Messgeräte, die auf verdachtsunabhängigen Messverfahren basieren, müssen danach also so umgerüstet bzw. gebaut werden, dass sie erst verdachtsabhängig einsetzen. Beim Brückenmessverfahren darf damit die Bildaufzeichnung erst bei konkreten Anhaltspunkten für einen Verkehrsverstoß aktiviert werden.[241]

 

Rz. 116

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung[242] offen gelassen, ob sich aus dem Verfassungsverstoß, also dem Beweiserhebungsverbot, zugleich ein Beweisverwertungsverbot für das Ordnungswidrigkeitenverfahren ergibt.[243] Auch wenn das OLG Oldenburg in dem von ihm entschiedenen Fall die Verwertung eines Messer...

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