Rz. 37

BGH, Urt. v. 24.9.2013 – VI ZR 255/12, VersR 2014, 80

Zitat

BGB § 254 Abs. 1; StVG § 9; ZPO § 286; StVO § 25 Abs. 3

1. Bei einem Unfall zwischen einem Fußgänger und einem Kraftfahrzeug darf bei der Abwägung der Verursachungsanteile im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB nur schuldhaftes Verhalten des Fußgängers verwertet werden, von dem feststeht, dass es zu dem Schaden oder zu dem Schadensumfang beigetragen hat.
2. Die Beweislast für den unfallursächlichen Mitverschuldensanteil des Fußgängers trägt regelmäßig der Halter des Kraftfahrzeugs.

I. Der Fall

 

Rz. 38

Die Klägerin begehrte von den Beklagten wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung zukünftiger Schäden vorbehaltlich des Anspruchsübergangs auf Dritte, wobei sie eine Mithaftung von 75 % hinnahm.

 

Rz. 39

Die Klägerin wurde am 6.2.2009 gegen 20.11 Uhr als Fußgängerin beim Überqueren einer innerörtlichen Straße von dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw erfasst, dessen Halterin und Fahrerin die Beklagte zu 1 war. Dabei wurde die Klägerin schwer verletzt. Bei der ihr entnommenen Blutprobe wurde eine BAK von 1,75 Promille festgestellt.

 

Rz. 40

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 41

Das Berufungsgericht verneinte einen Schmerzensgeldanspruch der Klägerin gegen die Beklagten gemäß §§ 7 Abs. 1; 11 S. 2 StVG, § 115 Abs. 1 VVG. Zwar habe sich der Unfall beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 1 ereignet, doch habe die Klägerin ein Verschulden der Beklagten zu 1 am Zustandekommen des Unfalls nicht bewiesen. Das von der Klägerin angebotene unfallanalytische Sachverständigengutachten scheide als Beweismittel aus, weil die notwendigen ausreichend konkreten Anknüpfungstatsachen, insbesondere Entfernungen, Abstände, Endlagen und Geschwindigkeiten für die Erstellung eines unfallanalytischen Gutachtens nicht gegeben seien. Zwar könnten die Beklagten auch nicht den Unabwendbarkeitsbeweis führen, doch treffe die Klägerin ein überwiegendes Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls. Sie habe in erheblich alkoholisiertem Zustand unter Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO die Straße überquert, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Das Verschulden der Klägerin überwiege dermaßen, dass die Betriebsgefahr dahinter zurücktrete.

 

Rz. 42

Das Berufungsurteil hielt der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

 

Rz. 43

Im Ansatz ging das Berufungsgericht allerdings zutreffend davon aus, dass die Beklagten auch ohne den Beweis eines Verschuldens der Beklagten zu 1 grundsätzlich aufgrund der Betriebsgefahr des Fahrzeuges für den unfallbedingten Schaden gemäß §§ 7 Abs. 1; 11 S. 2 StVG, § 115 Abs. 1 VVG einzustehen haben, weil sie nicht den Beweis der Verursachung durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG führen können.

 

Rz. 44

Das Berufungsurteil konnte jedoch keinen Bestand haben, soweit es die Haftung der Beklagten wegen des überwiegenden Verschuldens der Klägerin verneinte. Da die Klägerin weder Halterin noch Führerin eines beteiligten Fahrzeuges war, kam eine Anspruchskürzung nach den §§ 17, 18 StVG nicht in Betracht. Die Beklagten zu 1 und 2 hafteten der Klägerin grundsätzlich als Gesamtschuldner in vollem Umfang. Die Gefährdungshaftung kann allerdings im Rahmen der Abwägung nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entfallen, wenn die im Vordergrund stehende Schadensursache ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten darstellt (st. Rspr., vgl. Senatsurt. v. 21.12.1955 – VI ZR 63/55, VersR 1956, 238 f.; v. 12.10.1965 – VI ZR 81/64, VersR 1966, 39 f.; v. 18.3.1969 – VI ZR 242/67, VersR 1969, 571, 572 und v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, VersR 1990, 535, 536). Die Abwägung nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB setzt jedoch stets die Feststellung eines haftungsbegründenden Tatbestandes auf der Seite des Geschädigten voraus. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen und für die Entstehung des Schadens ursächlich geworden sein (vgl. Senatsurt. v. 15.11.1960 – VI ZR 30/60, VersR 1961, 249, 250; v. 8.1.1963 – VI ZR 35/62, VersR 1963, 285, 286; v. 29.11.1977 – VI ZR 51/76, VersR 1978, 183, 185; v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357, 358 und v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, VersR 2007, 263 Rn 15 ff.; BGH, Urt. v. 20.2.2013 – VIII ZR 339/11, NJW 2013, 2018 Rn 34). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben außer Betracht zu bleiben (vgl. Senatsurt. v. 20.3.2012 – VI ZR 3/11, VersR 2012, 865 Rn 12). Für die Abwägung der Verursachungsanteile im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB ist mithin nur das Verhalten der Klägerin maßgebend, das sich erwiesenermaßen als Gefahrenmoment in dem Unfall ursächlich niedergeschlagen hat (vgl. Senatsurt. v. 10.1.1995 – VI ZR 247/94 a.a.O.).

 

Rz. 45

Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage...

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