I. Gesetzlicher oder rechtsgeschäftlicher Anspruch?

 

Rz. 5

Umstritten ist in der Literatur, ob die Konsequenz des § 1a KSchG ein gesetzlicher oder ein rechtsgeschäftlicher Anspruch ist. Auswirkungen hat diese Streitfrage auf die Möglichkeit, die rechtserhebliche Erklärung anzufechten. Unterschiede ergeben sich weiter, wenn der Arbeitnehmer Klage erhebt und diese dann später zurücknimmt. Gem. § 279 ZPO ist diese Klage als nicht anhängig geworden anzusehen. Für einen gesetzlichen Anspruch könnte diese Fiktion möglicherweise auf die Anspruchsvoraussetzungen durchschlagen und den Anspruch – nachträglich – begründen (vgl. Rdn 56).

 

Rz. 6

Ein Teil von Rechtsprechung und Literatur[9] ist der Ansicht, § 1a KSchG begründe einen gesetzlichen Abfindungsanspruch. Scheinbare Unterstützung findet dies in der Gesetzesbegründung, in der der Anspruch ausdrücklich als "gesetzlicher Abfindungsanspruch" bezeichnet wird.[10] Daneben wird vertreten, es handle sich um einen gänzlich neuen Kündigungstypus, nämlich eine "Abfindungskündigung mit Wahlrecht".[11]

 

Rz. 7

Der Aufbau des Anspruchs ist indes nicht der eines gesetzlichen Anspruchs. Gesetzliche Ansprüche sind typischerweise ausschließlich abhängig von dem Bestehen einer bestimmten, tatbestandlich gegebenen Situation. So entstehen durch die Schwangerschaft gesetzliche Ansprüche der Mutter; durch die Geburt entsteht ein gesetzlicher Anspruch auf Mutterschaftsgeld. § 1a KSchG macht dagegen das Entstehen des Anspruchs abhängig von rechtsgeschäftlichen Handlungen zweier Parteien. Dies ist die typische Konstellation eines rechtsgeschäftlichen Vertragsschlusses. Gegen die Annahme eines rechtsgeschäftlichen Angebots kann auch nicht angeführt werden, dass ein Aufhebungsvertrag gem. § 623 BGB der Schriftform bedürfe.[12] Denn Gegenstand des Vertrages nach § 1a KSchG ist nicht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern die Pflicht zur Zahlung einer Abfindung. Gegenstand ist auch nicht etwa ein Klageverzicht des Arbeitnehmers.[13] Das Verstreichenlassen der Klagefrist ist objektive Bedingung des Vertragsschlusses, nicht aber Vertragsgegenstand.

 

Rz. 8

Vor diesem Hintergrund ist der Ansicht zuzustimmen, dass § 1a KSchG das Zustandekommen eines rechtsgeschäftlichen Anspruchs bezeichnet.[14] Dem hat sich wohl auch das BAG angeschlossen, wenn auch die entsprechenden Ausführungen, wonach der Abfindungsanspruch seinem Charakter nach einer einzelvertraglichen vereinbarten Abfindung entspreche, nicht die konkrete Entscheidung tragen.[15] Auf die Frage, ob alleine das Schweigen des Arbeitnehmers das Rechtsgeschäft begründen kann, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Denn das Gesetz knüpft den Vertragsschluss nicht an eine wörtliche Äußerung oder ein Schweigen, sondern an ein bestimmtes Verhalten des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer bringt nach der Vorstellung des Gesetzes seinen Annahmewillen erkennbar durch ein Unterlassen einer Handlung und nicht durch Schweigen zum Ausdruck. Er unterlässt es, innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG eine Klage auf Feststellung zu erheben, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Dass an eine solche objektiv erkennbare Betätigung des Annahmewillens und damit an einen gesetzlich klar definierten Tatbestand eine Erklärungswirkung geknüpft wird, ist der Standardfall einer gesetzlich fingierten Willenserklärung.[16] Fragen der Geschäftsfähigkeit, Stellvertretung und Anfechtung lassen sich nach den allgemeinen Grundsätzen lösen.[17]

 

Rz. 9

Hierdurch wird auch deutlich, woraus sich der gesetzlich vorgeschriebene Hinweis des Arbeitgebers auf die Rechtsfolgen des Unterlassens rechtfertigt: da das Unterlassen grundsätzlich kein rechtsgeschäftsrelevantes Handeln darstellt, muss sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmer in der konkreten Situation darüber aufgeklärt wird, dass aufgrund der gesetzlichen Fiktionswirkung durch das Unterlassen (ausnahmsweise) eine rechtsgeschäftliche Wirkung erzielt wird.[18]

 

Rz. 10

Auch die Gesetzesbegründung stützt bei richtiger Lesart im Ergebnis die Annahme eines rechtsgeschäftlichen Anspruchs. Zwar ist zutreffend, dass die Gesetzesbegründung von einem "gesetzlichen Abfindungsanspruch" spricht. In der Gesetzesbegründung findet sich jedoch auch der Satz "Eine ausdrückliche Erklärung des Arbeitnehmers, dass er die gesetzliche Abfindung beanspruchen will, wird nicht gefordert".[19] Mit der Bezeichnung "gesetzlich" ist nicht das Entstehen des Anspruchs, sondern vielmehr nur dessen Höhe gemeint (vgl. hierzu Rdn 45 ff.).

[9] Grobys, DB 2003, 2174; Giesen/Besgen, NJW 2004, 185; Willemsen/Annuß, NJW 2004, 177, 182; Thüsing/Wege, JuS 2006, 97, 99; Altenburg/Reufels/Leister, NZA 2006, 71, 73 ff.; ArbG Siegen v. 9.6.2005, NZA 2005, 935.
[10] BT-Drucks 15/1204, 12.
[11] Schmitt-Rolfes, NZA Beil 1/2005, 3, 7.
[12] Schmitt-Rolfes, NZA Beil 1/2005, 3, 7.
[13] Schmitt-Rolfes, NZA Beil 1/2005, 3, 7.
[14] So auch Löwisch, NZA 2003, 689, 694; Preis, DB 2004, 70, 71; offengelassen von BAG v. 10.5.2007, BAGE 122, 257; LAG Hamm v. 7.6.2005, BZA 2005, 1123; LAG Rheinland-Pfalz v. 19.1.2023 – 5 Sa 135/22.
[15] BA...

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