Rz. 1454

Will der Arbeitgeber Betriebsänderungen i.S.d. §§ 111, 112a BetrVG durchführen, indem er beabsichtigt, Personal abzubauen, den Betrieb zu verlegen, stillzulegen oder zu verkleinern, muss er den Betriebsrat zuvor rechtzeitig umfassend unterrichten und die geplante Betriebsänderung mit ihm beraten. Es ist höchst fraglich, ob zur Sicherung dieser Beteiligungsrechte des Betriebsrates, nämlich seines Anspruches auf Unterrichtung und Verhandlungen über einen Interessenausgleich, ein im Wege der einstweiligen Verfügung durchsetzbarer Unterlassungsanspruch besteht. Da das BAG (Beschluss v. 22.2.1983 – 1 ABR 27/81) einen allgemeinen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates insgesamt verneint und den Antrag schon aus diesem Grund abgewiesen hatte, war und ist der Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Unterlassung betriebsbedingter Kündigungen vor Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens nach Änderung der grundsätzlichen Linie außerordentlich umstritten. Weil der Interessenausgleich nicht erzwingbar und außerdem als Sanktion der Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 3 BetrVG vorgesehen sei, so wird vertreten, könne eine Untersagungsverfügung zu einer vom materiellen Recht nicht vorgesehenen Sicherung von Rechten des Betriebsrates nicht ergehen (Nachweise vgl. z.B. bei Löbinger, in: FS Richardi, S. 657; Walker, FA 2008, 290; Gaul, RdA 2008, 13; Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Teil 2 A Rn 105 ff.). Dem ist entgegengehalten worden, dass auch das gesetzlich normierte Recht des Betriebsrates auf Unterrichtung und Beratung durch eine einstweilige Verfügung gem. § 940 ZPO gesichert werden könne (Fitting, § 111 BetrVG Rn 160 ff.).

 

Rz. 1455

Nach Bejahung des Bestehens eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs durch das BAG zumindest bei Verletzung eines Teils der Mitbestimmungsrechte kann auf die Entscheidung vom 22.2.1983 nicht mehr Bezug genommen werden. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 3 BetrVG betrifft die individualrechtlichen Folgen des nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführten Interessenausgleichsverfahrens. Davon zu unterscheiden sind aber die kollektiven Beteiligungsrechte des Betriebsrates und die Frage, ob diese durch einen Unterlassungsanspruch gesichert werden können.

 

Rz. 1456

Es entsteht ein betriebsverfassungswidriger Zustand, wenn der Unternehmer die Betriebsänderung einseitig vor Abschluss der Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich durchführt. Die Beratungen werden gegenstandslos und überflüssig, wenn der Betriebsrat seine Vorstellungen vom Unterbleiben der Betriebsänderung oder von möglichen Alternativen nicht mehr einbringen kann, weil schon vollendete Tatsachen geschaffen worden sind. Deshalb ist der Unternehmer aufgrund seiner Beratungspflicht nach § 111 S. 1 BetrVG verpflichtet, jede der Durchführung der geplanten Betriebsänderung dienende Maßnahme so lange zu unterlassen, bis die Betriebsänderung mit dem Betriebsrat beraten worden ist.

 

Rz. 1457

Wenn man einen Unterlassungsanspruch im Bereich der Betriebsänderung bejaht, kann dies allenfalls zur Sicherung dieses Beratungsanspruchs geschehen – es kann aber nicht hiervon losgelöst die Betriebsänderung als solches untersagt werden (LAG Berlin-Brandenburg v. 10.12.2020 – 26 TaBVGa 1498/20, juris). Ein Unterlassungsanspruch ist daher ausgeschlossen, wenn die Betriebsänderung bereits durchgeführt wurde, sodass eine Unterrichtung, Beratung und Verhandlung über sie obsolet wäre, weil bereits vollendete, irreversible Tatsachen geschaffen wurden, etwa die Kündigungen ausgesprochen wurden (LAG Hamm v. 17.2.2015 – 7 TaBVGa 1/15, juris, sodass – wenn dies zwischen den Instanzen geschieht – das Verfahren erledigt ist). Zudem ist eine Bejahung der Wiederholungsgefahr problematisch, wenn die Betriebsänderung bereits abgeschlossen wurde und sich eine weitere Betriebsänderung nicht abzeichnet (LAG Köln v. 21.5.2021 – 9 TaBV 56/20, juris). Auch kommt eine Sicherung des Verhandlungs- und Beratungsanspruchs im Wege einer Unterlassungsverfügung dann nicht in Betracht, wenn der Arbeitgeber mehrfach ein entsprechendes Einigungsstellenverfahren anbietet, der Betriebsrat ein solches aber nicht betreibt (LAG Düsseldorf v. 8.12.2017 – 6 TaBVGa 1484/17, juris Rn 157). Eine Art Folgenbeseitigung einer Verletzung des Verhandlungs- und Beratungsanspruchs würde jedenfalls der Systematik widersprechen (LAG Rheinland-Pfalz v. 22.3.2018 – 4 TaBV 20/17, juris; LAG Hamm v. 17.2.2015 – 7 TaBVGa 1/15, juris).

 

Rz. 1458

Angesichts der Ausgestaltung der gesetzlichen Bestimmungen dürfte jedoch diejenige Ansicht vorzugswürdig sein, die das Bestehen eines eigenständigen Sekundäranspruches auf Unterlassung der Betriebsänderung verneint. Nach der Vorschrift des § 113 BetrVG führt ein Verstoß im Gegensatz zum Verstoß gegen § 87 BetrVG, bei dem die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung gilt, gerade nicht zur Unwirksamkeit der Betriebsänderung. Die hier gesetzlich geregelten individualrechtlichen Folgen der Mitbestimmung gehen also weniger weit als in a...

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