Rz. 158

Wie anzurechnen ist, wenn außergerichtlich mehrere Geschäftsgebühren aus Einzelwerten entstanden sind, im gerichtlichen Verfahren aber nur eine einheitliche Verfahrensgebühr entsteht, hat der BGH im Februar 2017 entschieden:

 

Der Fall:

Entstanden vorgerichtlich: 3 verschiedene gebührenrechtliche Angelegenheiten wegen verschiedener wettbewerbswidriger Handlungen (analog anwendbar auf Fälle, in denen mehrere Geschäftsgebühren aus Einzelwerten entstehen, vgl. Rdn 16).

Rechtsstreit beim Landgericht endet mit VU

Vorgerichtlich entstanden:

 
1,3 Geschäftsgebühr aus 45.000,00 EUR 1.414,40 EUR
1,3 Geschäftsgebühr aus 20.000,00 EUR 964,60 EUR
1,3 Geschäftsgebühr aus 45.000,00 EUR 1.414,40 EUR
Wert gesamt: 110.000,00 EUR

Wertfestsetzung gerichtliches Verfahren: 135.000,00 EUR

KFA nach vollem Obsiegen:

 
1,3 Verfahrensgebühr aus 135.000,00 EUR 2.174,90 EUR
abzgl. 0,65 Geschäftsgebühr aus 135.000,00 EUR ./. 1.087,45 EUR
Restbetrag nach Anrechnung 1.087,45 EUR

KFB LG:

 
1,3 Verfahrensgebühr aus 135.000,00 EUR 2.174,90 EUR
abzgl. 0,65 Geschäftsgebühr aus 45.000,00 EUR ./. 707,20 EUR
abzgl. 0,65 Geschäftsgebühr aus 20.000,00 EUR ./. 482,30 EUR
abzgl. 0,65 Geschäftsgebühr aus 45.000,00 EUR ./. 707,20 EUR
Restbetrag nach Anrechnung 278,20 EUR
Sofortige Beschwerde → zurückgewiesen.
Rechtsbeschwerde, § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO → zugelassen, blieb jedoch erfolglos.

Die Entscheidung:

Zitat

"Fällt die Geschäftsgebühr für die vorgerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts mehrfach an und werden die vorgerichtlich geltend gemachten Ansprüche im Wege objektiver Klagehäufung in einem einzigen gerichtlichen Verfahren verfolgt, so dass die Verfahrensgebühr nur einmal anfällt, sind alle entstandenen Geschäftsgebühren in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen."[97]

Aus den Gründen des BGH:

Der BGH bejaht die Anrechnung der Geschäftsgebühr aus den jeweiligen Einzelwerten.
Eine Berufung der Beklagten auf die Anrechnung gem. § 15 Abs. 2 RVG ist nach Ansicht des BGH i. O., da die Geschäftsgebühren zu ihren Lasten tituliert sind.

Meinungsstreit:

Alle entstandenen Geschäftsgebühren sind in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen.[98] Folge dieser Anrechnungsmethode: Es kann weniger als 0,55 Verfahrensgebühr verbleiben oder die Verfahrensgebühr gar ganz entfallen.

Ebenso erfolgt eine Anrechnung von Verfahrensgebühren aus verschiedenen selbstständigen Beweisverfahren auf eine Gesamt-Verfahrensgebühr in der Hauptsache gem. Vorbemerkung 3 Abs. 5 VV RVG.[99]
Andere Auffassung: Bildung einer einheitlichen Geschäftsgebühr aus den addierten Gegenstandswerten, anteilige Anrechnung auf die Verfahrensgebühr; Anwendung von § 15 Abs. 3 RVG.[100]

Der BGH folgt der Ansicht, dass alle entstandenen Geschäftsgebühren (einzeln) in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr angerechnet werden müssen.

Grundlage für die Berechnung des anrechenbaren Gebührenanteils ist allein eine tatsächlich entstandene Geschäftsgebühr, nicht hingegen eine fiktive Geschäftsgebühr[101]
Die Anrechnung erfolgt gem. Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 5 VV RVG nach dem Wert des Gegenstands, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist; dies knüpft an die Bestimmung der Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG an und lässt die Fiktion einer tatsächlich nicht angefallenen Geschäftsgebühr ebenfalls nicht zu[102]

Ergo: Anrechnung einer "fiktiv" gebildeten Geschäftsgebühr nach dem Gesamtstreitwert des gerichtlichen Verfahrens scheidet aus.

Eigentlich: Anrechnung dann vorliegend nur aus 110.000,00 EUR, nicht aus 135.000,00 EUR; darauf kam es hier aber nicht mehr an.

Gefahr eines negativen Saldos besteht laut BGH nicht, da Anrechnung maximal in der Höhe der Verfahrensgebühr erfolgen kann, auf die angerechnet wird.[103]
Der BGH ließ offen, ob im Fall subjektiver Klagehäufung (Entstehung mehrerer Geschäftsgebühren für mehrere Personen, die außergerichtlich getrennt und im Prozess gemeinschaftlich vertreten werden) die Anrechnung quotal erfolgen kann.

Fazit:

Der BGH verweist auch auf die BRAGO und damalige volle Anrechnung der Geschäftsgebühr, mit der Folge, dass von der Verfahrensgebühr nichts mehr übrig blieb. Dabei verkennt der BGH m.E. jedoch völlig, dass die Neukonzeption der Geschäftsgebühr nach RVG auch die zu BRAGO-Zeiten noch vorhandene Besprechungsgebühr nach § 118 Abs. 1 Nr. 2 BRAGO enthielt. Diesem Umstand ist geschuldet, dass in der heutigen Zeit nur eine hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr vorgenommen wird, weil die Geschäftsgebühr im Grunde genommen gegenüber der damaligen Rechtslage zwei Gebühren abdecken sollte. Ich halte die Entscheidung des BGH daher nicht für richtig. Auf die Frage, ob überhaupt verschiedene Geschäftsgebühren aus Einzelwerten (und damit verschiedene Angelegenheiten) angenommen werden können, wenn doch die Sache gerichtlich einheitlich in einem Klageverfahren bearbeitet werden kann, geht der BGH nicht ein. Das wäre m.E. aber hier auch eine interessante Frage gewesen, ob nicht vielmehr...

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