Rz. 166
Nachdem der erste Prüfungsschritt beinhaltete, zu prüfen, welche Arbeitnehmer vergleichbar und in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, wer von diesen Arbeitnehmern der sozial Stärkere bzw. Schwächere ist.
Für die Sozialauswahl sind seit dem 1.1.2004 auf der Grundlage des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 die sozialen Auswahlgesichtspunkte Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung maßgeblich.
aa) Dauer des Arbeitsverhältnisses
Rz. 167
Bei dem Kriterium ist – entgegen des Wortlauts – die Dauer des Arbeitsverhältnisses zu dem Arbeitgeber bzw. dessen Rechtsvorgänger entscheidend. Je länger dieses andauert, desto mehr richtet sich der Arbeitnehmer mit seiner Lebensführung – wie arbeitsplatzbezogener Wohnort, Entwicklung von Freundschaften und Lebensgewohnheiten – darauf ein, dass es auch fortbesteht. Der Arbeitnehmer leistet auch zunehmend einen Beitrag zum Wert des Unternehmens.[291] Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses trifft deshalb den langjährig beschäftigten Arbeitnehmer besonders hart.[292]
Rz. 168
Daher sind frühere Beschäftigungszeiten und Zeiträume des Ruhens des Arbeitsverhältnisses wie bei der Berechnung der Wartezeit zu berücksichtigen.[293]
Einzelvertragliche Vereinbarungen zur Anerkennung von früheren Beschäftigungszeiten bei einem anderen Unternehmen finden solange Berücksichtigung bei der Sozialauswahl, solange deren Zweck nicht in der Umgehung dieser bestand.[294] Es bedarf eines sachlichen Grundes, der in einem Vergleich zur Beendigung dieser früheren Beschäftigung bestanden haben kann.[295]
bb) Lebensalter
Rz. 169
Mit zunehmendem Alter und der damit einhergehenden schlechter werdenden Möglichkeiten einer neuen anschließenden Beschäftigung wird die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers höher.[296] Hinzu kommt auch die mit höherem Alter abnehmende Mobilität.[297] Andererseits sind jüngere Arbeitnehmer zum Unterhalt ihrer Familie stärker auf ein Erwerbseinkommen angewiesen als ältere Arbeitnehmer, die das Haus abbezahlt und die Kinder durch die Ausbildung gebracht haben. Das Lebensalter bildet somit eine ambivalente Größe.[298]
Die in § 1 Abs. 3 KSchG verankerte Ungleichbehandlung von älteren zu jüngeren Arbeitnehmern verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 2 lit. b und Art. 6 Abs. 1 S. 2 lit. a der Richtlinie 2000/78/EG und des diese gemeinschaftsrechtlichen Regelungen umsetzenden § 1 des am 18.6.2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes (AGG), weil die unterschiedliche Behandlung sowohl nach § 10 S. 1, 2 AGG als durch Art. 6 Abs. 1 Unterabs 1, Unterabs 2 Buchst a der Richtlinie 2000/78/EG gerechtfertigt ist.[299]
cc) Unterhaltspflichten
Rz. 170
Die Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers ist auch umso höher, je mehr Unterhaltspflichten dieser zu erfüllen hat. Maßgeblich sind gesetzliche familienrechtliche Unterhaltspflichten.[300] Familienrechtlich bestehende Unterhaltspflichten, die der Arbeitnehmer nicht erfüllt, sind in der Sozialauswahl zu berücksichtigen.[301] Ein gesetzeswidriges Verhalten soll keinen Einfluss auf die Sozialauswahl haben.[302]
Dabei kommt es auf den Umfang der gegen den Arbeitnehmer gerichteten unterhaltsrechtlichen Ansprüche, also die Anzahl der Unterhaltsberechtigen und die Höhe der Unterhaltsleistungen an, zu denen der Arbeitnehmer verpflichtet ist.[303] Als Unterhaltsleistungen sind insoweit auch beispielsweise die Betreuung der Kinder und die Pflege der pflegebedürftigen Verwandten zu berücksichtigen, die nicht nur finanziellen Aufwand bedeuten, sondern auch die zeitliche und örtliche Flexibilität und damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt einschränken.[304]
Rz. 171
Maßgeblich wird auf die Unterhaltspflichten abgestellt, die im Zeitpunkt der Kündigung bestanden haben,[305] da das Kriterium der Unterhaltspflichten auch zukünftige Auswirkungen der Kündigung auf die wirtschaftliche Lage des Arbeitsnehmers und derer berücksichtigen soll, die ihm gegenüber unterhaltsberechtigt sind. Daraus ergibt sich, dass fest absehbare Unterhaltspflichten auch zu berücksichtigen sind.[306]
Rz. 172
Umstritten ist der Umgang mit Doppelverdienst, wenn somit beide Ehe- oder Lebenspartner ein Einkommen erzielen. Auf keinen Fall darf – auch wenn der Ehepartner des Gekündigten selbst ein ...
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