Rz. 140

Tatsächlich trägt das Gericht aber nicht die alleinige Sachaufklärungspflicht. Die Beteiligten, insbesondere auch das Finanzamt,[192] haben eine Mitwirkungspflicht. Diese ergibt sich aus § 76 Abs. 1 S. 2–4 und aus § 76 Abs. 3 FGO. Denn nach § 76 Abs. 1 FGO sind die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhaltes von Amts wegen durch das Gericht "heranzuziehen". Sie haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und wahrheitsgemäß abzugeben und sich auf Anfragen des Gerichtes zu den von den anderen Beteiligten vorgebrachten Tatsachen zu erklären.

 

Rz. 141

Mitwirkungspflichten der Beteiligten ergeben sich auch aus den folgenden weiteren Vorschriften:

den Anforderungen an die Klage gem. § 65 FGO;
dem Erfordernis, gem. § 77 FGO Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung einzureichen;
der Möglichkeit der Fristsetzung zum Vortrag von Tatsachen gem. § 79b FGO;
der Möglichkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens von Beteiligten gem. § 80 FGO;
der Verpflichtung zur Erörterung der Streitsache mit den Beteiligten gem. § 93 FGO.[193]
 

Rz. 142

Für den Berater bedeutet die Mischung zwischen Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflicht Folgendes:

Zwar erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Dieser Pflicht steht jedoch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten gegenüber. Der Berater muss sich große Mühe geben, den Sachverhalt genau darzustellen. Finanzgerichtsprozesse gewinnt man selten mit originellen Rechtsansichten, sondern meist, indem man den Sachverhalt exakt erarbeitet und dem Gericht vorträgt.[194] Dazu gehört, dass der Berater die Möglichkeit der Akteneinsicht – zumal durch das Verlangen, die Akten in sein Büro zu übersenden – ausschöpft.[195] Das Finanzgericht muss den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel – gerade auch zugunsten des Steuerpflichtigen – soweit aufklären, dass die Sache spruchreif ist. Seine Untersuchungspflicht ist begrenzt durch den Gegenstand der Anfechtung, den bestimmten Verwaltungsakt. Zudem ist die Untersuchungspflicht begrenzt durch das Klagebegehren. Schließlich ist die Untersuchungspflicht begrenzt durch das Verhalten der Beteiligten. Es entspricht einhelliger Auffassung, dass auch innerhalb des Klagebegehrens das Finanzgericht nicht verpflichtet ist, den Sachverhalt ohne Rücksicht oder Anhaltspunkte im Vorbringen der Beteiligten zu erforschen. Die Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten beeinflusst die Grenzen der Sachaufklärung durch das Gericht.[196] Das Gericht ist aber verpflichtet, von sich aus solchen tatsächlichen Zweifeln oder Beweismitteln nachzugehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlungen aufdrängen müssen.[197]

 

Rz. 143

Folge mangelnder Mitwirkung ist, dass das Gericht im Wege der Beweiswürdigung nachteilige Schlüsse ziehen darf.[198] Erst wenn die Beweiswürdigung nicht zu einem hinreichend sicheren Ergebnis führt, entscheiden die Regeln der objektiven Beweislast. Wenn die Voraussetzungen des § 162 AO gegeben sind, kann das Finanzgericht schätzen gem. § 96 FGO i.V.m. § 162 AO.[199] Verletzt das Gericht seine Sachaufklärungspflicht, begeht es einen Verfahrensmangel gem. § 118 Abs. 3 FGO. Dieser kann zur Begründetheit einer Revision führen, wenn er wesentlich ist.[200]

[192] BFH v. 3.10.1970, BStBl II 1970, 458; das FG Münster gab im Urt. v. 11.12.1996 – 8 K 4612/95 (rechtskr., nv) einer Klage gegen einen Steuerbescheid statt, da das Finanzamt die Akten vernichtet hatte.
[193] Vgl. zu all diesen Vorschriften die Kommentierungen zur FGO z.B. Gräber und Tipke/Kruse.
[194] Vgl. Streck/Kamps/Olgemöller, Der Steuerstreit, Rn 936; Gräber/Herbert, FGO, § 76 Rn 1 ff.; Tipke/Kruse, § 76 FGO Rn 76 ff.
[195] Vgl. zur Akteneinsicht § 78 FGO: dazu z.B. Tipke/Kruse, § 78 FGO Rn 3 ff.; Gräber/Stapperfend, FGO, § 78 Rn 1 ff.; viele Finanzgerichte gewähren die Einsicht auf der Geschäftsstelle des Finanzgerichts, des Finanzamtes oder eines Amtsgerichts; die Versendung an den Anwalt soll im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehen, vgl. BFH v. 11.2.1981, BStBl II 1981, 475; v. 17.1.1989, BFH/NV 1989, 645; nach BFH v. 12.1.2000, BFH/NV 2000, 855 soll die Versendung an den Anwalt nur ausnahmsweise erfolgen. Dieser Ausnahmefall soll dann gegeben sein, wenn die Akten außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind, BFH v. 22.4.1997, BFH/NV 1997, 787; kritisch hierzu Tipke/Kruse, § 78 FGO Rn 13; u.E. verfassungswidrige Verletzung der Waffengleichheit, vgl. BVerfG v. 12.2.1998, AnwBl. 1998, 410.
[196] St. Rspr. des BFH, vgl. z.B. BFH v. 15.2.1989, BStBl II 1989, 462; BFH v. 30.11.1989, BStBl II 1990, 993.
[197] BFH v. 17.10.1989, BStBl II 1990, 249; BFH v. 24.5.1977, BStBl II 1977, 694; vgl. zu Einzelheiten Tipke/Kruse, § 76 FGO Rn 40 ff.
[198] Vgl. BFH v. 15.2.1989, BStBl II 1989, 462.
[199] Vgl. dazu Tipke/Kruse, § 96 FGO Rn 58 f.
[200] Vgl. zu Form und Inhalt der Revisionsrüge mangelnder Sachaufklärung Tipke/Kruse, § 115 FGO Rn 91, § 120 FGO Rn 114 ff.

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