Rz. 764

Fraglich ist, ob der Arbeitgeber i.R.d. Sozialauswahl weitere soziale Kriterien berücksichtigen darf oder ggf. sogar berücksichtigen muss. In der Entwurfsbegründung zum Reformgesetz ist insoweit davon die Rede, dass die Beschränkung auf die ausdrücklich genannten Kriterien "die Beachtung unbilliger Härten im Einzelfall" nicht ausschließe (BT-Drucks 15/1204, 11). In jedem Fall sei der Kreis der zusätzlich berücksichtigungsfähigen Umstände aber auf solche Tatsachen beschränkt, die "in einem unmittelbaren spezifischen Zusammenhang mit den Grunddaten stehen oder sich aus solchen betrieblichen Gegebenheiten herleiten, die evident einsichtig sind" (BT-Drucks 15/1204, 11).

 

Rz. 765

Zur früheren Rechtslage hat das BAG bspw. entschieden, dass neben der Schwerbehinderteneigenschaft auch besondere Behinderungen in die Abwägung der Sozialauswahlentscheidung einbezogen werden dürfen, wenn diese einer weiteren Arbeitsvermittlung erheblich entgegenstehen können (BAG v. 17.3.2005, AP Nr. 71 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl).

 

Rz. 766

Inzwischen hat das BAG jedenfalls klargestellt, dass unter der neuen Rechtslage der Arbeitgeber neben den vier im Gesetz vorgeschriebenen Kriterien jedenfalls keine weiteren berücksichtigen muss (BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549, 552; so auch KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 678 l). In der gleichen Entscheidung hat es zudem ausgeführt, dass dem Gesetz nicht unmittelbar zu entnehmen sei, ob der Arbeitgeber darüber hinaus andere Gesichtspunkte einbeziehen dürfe.

 

Rz. 767

In einem jüngeren Urteil hat das BAG jedoch dargelegt, dass die Sozialauswahl mit der Neufassung der Regelung des § 1 Abs. 3 KSchG auf die vier vorgenannten gesetzlichen Kriterien beschränkt worden sei (BAG v. 31.5.2007, AP Nr. 94 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl, vgl. auch v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 930). Namentlich steht nach Ansicht des BAG der eindeutige Wortlaut des Gesetzes einer Berücksichtigung der Gründe für einen Widerspruch gegen einen Betriebsübergang i.R.d. Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG entgegen (BAG v. 31.5.2007, AP Nr. 94 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl).

 

Rz. 768

Nach teilweiser Ansicht in der Literatur ist der Arbeitgeber hingegen nicht dazu gezwungen, seine Sozialauswahl ausschließlich auf die gesetzlichen Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung zu stützen (KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 670, 678; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 335). Dies folge einerseits daraus, dass der Arbeitgeber die vier gesetzlichen Kriterien nur "ausreichend" zu berücksichtigen habe. Andererseits gehe der Gesetzgeber selbst davon aus, dass der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl weitere Kriterien heranziehen dürfe. Dies ergebe sich daraus, dass die §§ 2 Abs. 2 ArbPlSchG und 8 Abs. 1 ATG, die es verbieten, dass der Wehrdienst bzw. die Inanspruchnahme von Altersteilzeit zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, nicht verändert worden seien. Diese Vorschriften wären überflüssig, wenn bei der Sozialauswahl ohnehin nur die vier Grunddaten berücksichtigt werden dürften KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 678 l).

 

Rz. 769

Nach einer engeren Literaturansicht ist die Berücksichtigung von Kriterien im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung in einem "denkbar engen" Ausnahmebereich zulässig, wenn die Faktoren im beruflichen Bereich Anknüpfungspunkte finden und von den Gesichtspunkten des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG offensichtlich nur unvollkommen erfasst werden (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 733). Nach einer weiteren, ähnlich engen Auffassung müssen solche Aspekte außer Betracht bleiben, die ausschließlich dem privaten Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzuordnen sind. Der allgemeine Gesundheitszustand des Arbeitnehmers oder seiner Angehörigen dürfe daher ebenso wenig berücksichtigt werden wie dessen allgemeine Zukunftsaussichten auf dem Arbeitsmarkt (Willemsen/Annuß, NJW 2004, 177, 178). Möglich sei es allerdings, Berufskrankheiten oder Folgen eines Arbeitsunfalles zugunsten des Arbeitnehmers in Erwägung zu ziehen (Willemsen/Annuß, NJW 2004, 177, 178). Aber auch dies sei nur gestattet, soweit dadurch nicht die "ausreichende" Beachtung der vier Grundkriterien verhindert werde. Wo diese Grenze im Einzelnen verläuft, könne nicht verlässlich bestimmt werden (Willemsen/Annuß, NJW 2004, 177, 178).

 

Rz. 770

 

Hinweis

Unabhängig davon, welcher Ansicht man folgt, ist es zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit für die Praxis jedoch empfehlenswert, sich auf die vier im Gesetzeswortlaut genannten Kriterien zu beschränken (vgl. auch Willemsen/Annuß, NJW 2004, 177, 178).

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