Rz. 600

Dringende betriebliche Erfordernisse, die den Wegfall eines Arbeitsplatzes verursacht haben, können eine Kündigung weiterhin nur dann sozial rechtfertigen, wenn der Arbeitgeber auch keine Möglichkeit hat, den Arbeitnehmer anderweitig zu beschäftigen.

 

Rz. 601

Dies ergibt sich in erster Linie aus § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1b) KSchG, der in seinem Wortlaut über § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG hinausgeht. Ist die bisherige Beschäftigungsmöglichkeit für den von einer Kündigung bedrohten Arbeitnehmer entfallen, hat der Arbeitgeber zu prüfen, ob eine Beschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG besteht, mithin, ob er den Arbeitnehmer an einem anderen freien Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigen kann (BAG v. 17.5.1984, AP Nr. 21 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung). Auf diese Weise wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Kündigungsrecht normativ konkretisiert (BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 721/12, Rn 15; BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 552/11, Rn 29; BAG v. 12.8.2010 – 2 AZR 558/09, Rn 20). § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG ist – im Gegensatz zu § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG – nicht ausschließlich betriebsbezogen zu prüfen, sondern weist wegen der Verpflichtung des Arbeitgebers, einen ggf. freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens anzubieten, einen Unternehmensbezug auf (BAG v. 13.9.1973, AP Nr. 2 zu § 1 KSchG; BAG v. 17.5.1984, AP Nr. 21 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung). Sind seine Voraussetzungen erfüllt, ist eine Kündigung nicht erforderlich (Wank, RdA 1987, 129, 136 ff.).

 

Rz. 602

Für den Bereich des öffentlichen Dienstes gilt dies entsprechend. Hier kommt es darauf an, ob der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in derselben Dienststelle oder in einer anderen Dienststelle desselben Verwaltungszweiges an demselben Dienstort beschäftigt werden kann.

 

Rz. 603

Fallen für mehrere Arbeitnehmer einer Dienststelle Beschäftigungsmöglichkeiten weg und konkurrieren diese um eine geringere Zahl freier Arbeitsplätze in einer anderen Dienststelle des Arbeitgebers, so ist grundsätzlich durch eine Sozialauswahl analog § 1 Abs. 3 KSchG zu entscheiden, gegenüber welchem Arbeitnehmer den Arbeitgeber die Weiterbeschäftigungsobliegenheit aus § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG trifft (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 38; BAG v. 12.8.2010 – 2 AZR 945/08, Rn 40; BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, zu B III 2 b cc (1) der Gründe).

Hat der Arbeitgeber eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl unterlassen, so ist die Kündigung des klagenden Arbeitnehmers zumindest dann nicht sozial ungerechtfertigt, wenn mit ihr – zufällig – eine im Ergebnis vertretbare Auswahlentscheidung getroffen wurde (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 41; BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, Rn 61; vgl. auch Rdn 827). Entsprechendes gilt, wenn eine Sozialauswahl zwar getroffen wurde, dem Auswahlverfahren aber methodische Fehler anhaften (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 41; BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 476/10, Rn 48). Der Arbeitgeber hat in solchen Fällen im Prozess die Möglichkeit aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen soziale Gesichtspunkte gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn ein seitens des Arbeitnehmers gerügter Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 41; grundlegend BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, Rn 23, BAGE 120, 137).

Diese Erwägungen treffen sinngemäß auch auf die Auswahl der weiter zu beschäftigenden Arbeitnehmer zu (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 42). Gelingt es dem Arbeitgeber aufzuzeigen, dass der klagende Arbeitnehmer bei gesetzeskonformem Vorgehen und bei ausreichender Beachtung sozialer Gesichtspunkte gleichermaßen von einer Beendigungskündigung betroffen gewesen wäre, wirkt sich ein möglicher Fehler im "Angebotsverfahren" nicht aus (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 42).

Dabei bleibt es auch dann, wenn der Arbeitgeber bewusst die Entscheidung getroffen hat, zunächst ausnahmslos Beendigungskündigungen zu erklären und die im Kündigungszeitpunkt freien Stellen erst im Lauf der Kündigungsfristen anzubieten (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 43). Ein solches Vorgehen führt nicht dazu, dass nunmehr bezogen auf den Kündigungszeitpunkt eine Prognose darüber anzustellen wäre, ob andere Arbeitnehmer möglicherweise die Weiterbeschäftigung auf dem fraglichen Arbeitsplatz ablehnen würden und deshalb für den klagenden Arbeitnehmer die Aussicht auf ein "Nachrücken" bestand (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 43). Andernfalls könnten sich nicht nur die am sozial schutzbedürftigsten und damit vorrangig bei der Stellenbesetzung zu berücksichtigenden Arbeitnehmer unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs der Änderungskündigung auf die Unwirksamkeit ihrer Kündigung berufen, sondern auch diejenigen Arbeitnehmer, für die sich lediglich "prognostisch" die Chance eines "Nachrückens" hätte ergeben können (BAG v. 27.7.17 – 2 AZR 476/16, Rn 43). Das kann schon deshalb nicht richtig sein, weil die gesetzlichen W...

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