Rz. 203

Zu den o.a. Fragen liegt eine umfangreiche Rechtsprechung vor. Diese kann aus Platzgründen hier nicht vollständig vorgestellt werden (vgl. a. Voraufl. Rn 197 ff.). Nachfolgend wird nur auf besonders wichtige Entscheidungen hingewiesen.

 

Rz. 204

Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
 
Gericht/Fundort Unterlage Anmerkung
BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75 Messunterlagen

1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt, dass der Betroffene grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.

2. Das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gilt besonders im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten nicht unbegrenzt. Die begehrten Informationen müssen in einem sachlichen und zeitlichen ­Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insoweit ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen.
VerfGH Saarland, Urt. v. 5.7.2019 – Lv 7/17, NZV 2019, 414 m. Anm. Krenberger = zfs 2019, 527 = VRR 8/2019, 11 Rohmessdaten (Traffistar S 350), Statistikdatei

Zu einem rechtsstaatlichen Verfahren gehört die grundsätzliche Möglichkeit der Nachprüfbarkeit einer auf technischen Abläufen und Algorithmen beruhenden Beschuldigung.

Fehlt es – wie bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Traffistar S 350 – an Rohmessdaten für den konkreten Messvorgang und vermag sich eine Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeugs und seines Fahrers zu stützen, so fehlt es an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt. Eine Verurteilung kann dann auf dieser Grundlage nicht erfolgen.

Solange eine Messung nicht durch die Bereitstellung der Datensätze – einschließlich auch der Statistikdatei – einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung schlicht bedeuten, dass Rechtsuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären. Das ist weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahren – wie zB der Blutprobenanalyse und der DNA-Identitätsmusterfeststellung – rechtsstaatlich hinnehmbar.
VerfGH Saarland, NZV 2018, 275 Rohmessdaten, gesamte Messserie, Token-Datei, ­Passwort, Statistikdatei bei Vitronic PoliScan F 1 HP Die Nichtzugänglichmachung einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und-Passwort sowie der Statistikdatei verletzen das Gebot eines fairen Verfahrens und das Gebot des rechtlichen Gehörs.
VerfGH Rheinland-Pfalz, NStZ 2022, 236 m. Anm. Sandherr PoliScan Speed M 1 Anspruch auf Einsichtnahme in die Reparatur- und Wartungsunterlagen ("Lebensakte")
VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.7.2022 – VGH B 30/21 – StRR 2022, 35 nicht gespeicherte Rohmessdaten, PoliScan Speed M 1 Kein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren bei Nichtspeicherung von Rohmessdaten.
BGH, Oberlandesgerichtliche Rechtsprechung/BayObLG
 
Gericht/Fundort Unterlage Anmerkung
BGH, Beschl. v. 30.3.2022 – 4 StR 181/21, VRR 5/2022, 22 = DAR 2022, 350 = zfs 2022, 347 Daten vom gesamten Tattag/der gesamten Messreihe Unzulässige Divergenzvorlage des OLG Zweibrücken
BayObLG, Beschl. v. 4.1.2021, 202 ObOWi 1532/20, Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 41 Rohmessdaten bei Poliscan Speed Kein Anspruch auf Daten der gesamten Messserie (der Daten vom gesamten Tattag)
KG, Beschl. v. 6.8.2018 – 3 Ws (B) 168/18 – 162 Ss 48/18 Lebensakte, Rohmessdaten

Rügt die Rechtsbeschwerde, keinen Zugang zur sog. Lebensakte und den Rohmessdaten erhalten zu haben, so hat sie substantiiert vorzutragen, was sich aus diesen Unterlagen ergeben hätte. Sollte ihr dies nicht möglich sein, weil ihr die Unterlagen noch immer nicht vorliegen, so muss sich der Rechtsbeschwerdeführer bis zum Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist weiter um die Einsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen substantiiert dartun.

Dass auf dem Messfoto einzelne Teile des Gesichts verdeckt sind, steht der Bewertung, es sei zur Identifikation des Fahrers grundsätzlich geeignet, nicht per se entgegen.
KG, Beschl. v. 27.4.2018 – 3 Ws (B) 133/18, zfs 2018, 472 mit Anm. Krenberger  

1. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert.

2. Ein Betroffener hat Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden.

3. Ein Verteidiger kann, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, im Vorfeld der Hauptverhandlung grundsätzlic...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge