Rz. 167
Einige Versicherer verzichten auf den Einwand der groben Fahrlässigkeit, nicht jedoch bei Trunkenheitsfahrten und Entwendungsfällen.[190]
I. Bedeutung
Rz. 168
In den meisten Deckungsprozessen geht es um den Vorwurf, der Versicherungsnehmer oder sein Fahrer habe den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt. Die Grenzen zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit sind fließend, die Rechtsprechung ist ebenso unübersichtlich wie uneinheitlich.
Rz. 169
Da im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit bei der groben Fahrlässigkeit auch subjektive Umstände zu berücksichtigen sind, hängt der Ausgang eines derartigen Deckungsprozesses oft davon ab, wie geschickt oder ungeschickt der Versicherungsnehmer oder der von ihm beauftragte Rechtsanwalt die subjektive Seite vorträgt.
Rz. 170
Besonders deutlich wird dies beim Rotlichtverstoß: In den meisten Fällen wird vorgetragen, der Versicherungsnehmer sei "durch die tief stehende Mittagssonne geblendet" worden. Durch diese Einlassung wird ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten zugestanden: Ein Kraftfahrer, der in eine Kreuzung einfährt, ohne das Farbsignal der Verkehrssignalanlage erkennen zu können, handelt auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbar.[191]
II. Definition
Rz. 171
Grob fahrlässig handelt, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und in ungewöhnlich hohem Maße dasjenige unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen.[192]
Rz. 172
Gemäß § 81 VVG ist der Versicherer leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt. Nach h.M. ist § 81 VVG ein subjektiver Risikoausschluss und nicht die Sanktion der Verletzung einer allgemeinen Schadenverhütungsobliegenheit, da es eine solche Pflicht nicht gibt.[193]
III. Objektive Voraussetzungen
Rz. 173
Ausgangspunkt für die Bestimmung der groben Fahrlässigkeit ist die gesetzliche Regelung der einfachen Fahrlässigkeit (§ 276 BGB): Fahrlässig handelt, "wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt". Der objektive Sorgfaltsmaßstab ist auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtet; im Rechtsverkehr muss jeder grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass der andere Vertragspartner die für die Erfüllung der allgemeinen Pflichten erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzt.[194]
Rz. 174
Verletzt ein Versicherter die im Rechtsverkehr allgemein anerkannten und angewandten Sorgfaltspflichten in besonders schwerwiegendem Maße, so handelt er in objektiver Hinsicht grob fahrlässig.
IV. Subjektive Voraussetzungen
Rz. 175
Während der Maßstab der einfachen Fahrlässigkeit ausschließlich objektiv ist, sind bei der groben Fahrlässigkeit auch subjektive, in der Individualität des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen.[195]
Rz. 176
Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ist nur dann begründet, wenn den Handelnden ein schweres Verschulden trifft.[196] Im Rahmen der groben Fahrlässigkeit kommt es somit auf die persönlichen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten, auf die berufliche Stellung, die Lebenserfahrung und den Bildungsgrad des Versicherten an.[197]
V. Kausalität
Rz. 177
Der Versicherungsfall muss durch das grob fahrlässige Verhalten eingetreten sein, es muss sich zumindest mitursächlich ausgewirkt haben.[198] Geht der Fahrlässigkeitsvorwurf dahin, dass der Versicherungsnehmer einen Fahrzeugschlüssel im Fahrzeug zurückgelassen hat, muss der Versicherer beweisen, dass der im Fahrzeug zurückgelassene Schlüssel auch zur Entwendung benutzt wurde.[199]
VI. Augenblicksversagen
Rz. 178
Der BGH spricht von einem "Augenblicksversagen", wenn dem Versicherten ein "Ausrutscher" unterläuft, der auf "ein bei der menschlichen Unzulänglichkeit typisches einmaliges Versagen" zurückzuführen ist.[200]
Rz. 179
Auch das Vergessen von verschiedenen Handgriffen in einem zur Routine gewordenen Handlungsablauf kann als typischer Fall eines Augenblicksversagens angesehen werden, welches das Verdikt der groben Fahrlässigkeit nicht verdient.[201]
Rz. 180
Diese Rechtsprechung hatte einige Oberlandesgerichte veranlasst, die grobe Fahrlässigkeit bei Rotlichtverstößen mit der Begründung zu verneinen, dass der Versicherte "nur für einen Augenblick" versagt habe.[202] Dieser Tendenz ist der BGH durch ein Grundsatzurteil
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