Rz. 6

In der Praxis gehen die meisten Unternehmen davon aus, eine Kündigung vor dem ArbG nicht wirksam durchsetzen zu können. Dreiviertel der Betriebe geben an, Probleme mit der Durchführung betriebsbedingter Kündigungen gehabt zu haben.[17] Diese Annahme führt sehr häufig dazu, dass bereits außergerichtlich, spätestens im Gütetermin unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles fantasielos die Zahlung der "Regelabfindung" angeboten wird. Insb. weil die Rechtsanwälte sich möglichst schnell eine Vergleichsgebühr verdienen wollen, das Gericht drängt und die Parteien entweder nicht anwesend sind oder sie den Inhalt der Verhandlung nicht verstehen, kommt ein Abfindungsvergleich i.d.R. bereits in der Güteverhandlung zustande.

 

Rz. 7

Da es dem Regelfall entspricht, von dem es insbesondere in privaten Großunternehmen und im öffentlichen Dienst allerdings zunehmend Ausnahmen gibt, dass der Arbeitnehmer nach Zugang einer Kündigung nicht wieder in dem Betrieb arbeiten, sondern vielmehr eine möglichst hohe Abfindung erzielen möchte, wird der Arbeitnehmer den Rechtsanwalt an der Höhe der erstrittenen Abfindung messen. Das Unternehmen wird den Rechtsanwalt daran messen, inwieweit er die Kündigung so vorbereitet und ggf. schriftsätzlich vorgetragen hat, dass es entweder gar nicht zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage kommt oder nur eine geringe oder gar keine Abfindung gezahlt werden muss. Ferner wird das Unternehmen den Rechtsanwalt daran messen, inwieweit er den tatsächlichen Ablauf der Sache richtig prognostiziert, durch sein taktisches Verhalten beeinflusst und dessen Ergebnis richtig eingeschätzt hat.

 

Rz. 8

Wenn man bedenkt, dass nur 8 % aller Eingänge bei den Arbeitsgerichten – die Hälfte davon sind Kündigungsschutzklagen – in der Sache entschieden werden, wird sehr schnell deutlich, dass insb. im Kündigungsschutzprozess tatsächliche und taktische Überlegungen eine erhebliche Rolle spielen. Im Jahr 2020 sind etwa 65 % aller Verfahren vor den Arbeitsgerichten durch einen gerichtlichen Vergleich erledigt worden.[18] Die Zahlen machen deutlich, dass der Kündigungsschutzprozess nicht geführt wird, um in der Sache Recht zu bekommen.[19]

 

Rz. 9

In Regelfall ist der Kündigungsschutzprozess wie ein Hürdenlauf. Je mehr Hürden der Arbeitnehmeranwalt aufstellen kann, desto höher wird die Abfindung. Dabei wird er in erster Linie versuchen, formale Hürden aufzustellen und wirtschaftlichen Druck aufzubauen (z.B. Kündigungszurückweisung nach §§ 174 oder 180 BGB; nicht ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung oder Anhörung der Schwerbehindertenvertretung; fehlende Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung; tarifvertragliche Kündigungsverbote bzw. -erschwerungen; Nichteinhaltung der Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Abs. 2 BGB; Bestreiten des Vorliegens einer wirksamen Abmahnung; Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruches nach § 102 Abs. 5 BetrVG; [monatliche] Geltendmachung des Annahmeverzugslohns und/oder von Urlaubsabgeltungs- oder Schadensersatzansprüchen, insb. bei einem entzogenen Pkw; Nichtvorgabe von Zielen etc.).

 

Rz. 10

Er wird auch den Zeitfaktor nutzen. Dieser spielt in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Auf der Ebene des Unternehmens beschäftigen sich häufig Führungskräfte mit dem Sachverhalt, die lieber ihr Tagesgeschäft betreiben. Deren Arbeitszeit ist typischerweise teuer. Darüber hinaus beschäftigen Arbeitgeber häufig Rechtsanwälte, die nach Stunden abrechnen. Hinzu kommt das so genannte Annahmeverzugsrisiko, also das finanzielle Risiko, das der Arbeitgeber trägt, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess obsiegt. Der Arbeitgeber muss dann diesen nicht nur weiterbeschäftigen, sondern er hat für die Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist, die bis zum rechtskräftigen Urteil vergangen ist, das volle Gehalt einschließlich etwaiger variabler Gehaltsbestandteile zzgl. der Sozialversicherungsbeiträge zu vergüten, ohne dass er dafür eine Gegenleistung erhält (natürlich nur, wenn der Arbeitnehmer in dieser Zeit keinen anderweitigen Verdienst erzielt hat). Dieses Risiko ist z.B. nach eineinhalb Jahren in zweiter Instanz höher als zum Zeitpunkt des noch während des Laufes der Kündigungsfrist stattfindenden Gütetermins. Je größer der zeitliche und wirtschaftliche Druck auf den Arbeitgeber ist, desto höher wird häufig die Abfindung bzw. das Vergleichsvolumen ausfallen. Daraus wird auch deutlich, dass für den Arbeitnehmermandanten günstige Vergleiche in aller Regel nicht in der Güteverhandlung erzielt werden können. Der Arbeitnehmeranwalt darf sich nicht davon beeinflussen lassen, dass die Arbeitsgerichte die Parteien gelegentlich zum Vergleich "prügeln" wollen; auch wenn dies in den letzten Jahren tendenziell abgenommen hat.

 

Rz. 11

Auf Arbeitgeberseite hängt das Prozessergebnis – in der Regel die Abfindungshöhe bzw. das Vergleichsvolumen – davon ab, wie gut es der Rechtsanwalt schafft, Hürden erst gar nicht entstehen zu lassen oder diese zu nehmen. Also z.B. ob eine schlüssige unternehmerische Entscheidung vorliegt und der...

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