Rz. 1156

Aus gesetzlichen Regelungen und aus vertraglichen Vereinbarungen können sich Haftungsbeschränkungen oder Haftungsfreistellungen einzelner Gesamtschuldner ergeben. Im Vergleich zu den Gesamtschuldverhältnissen, bei denen der Geschädigte nach seiner Wahl jeden Gesamtschuldner in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann, ist die Gesamtschuld in diesen Fällen verändert, "gestört". Es muss dann geklärt werden, ob und gegebenenfalls zu wessen Lasten sich das Haftungsprivileg im wirtschaftlichen Ergebnis auswirken soll.

 

Rz. 1157

Kürzt man den Anspruch des Geschädigten gegen die nicht privilegierten Gesamtschuldner, dann wird im Ergebnis der Geschädigte belastet. Belässt man dem Geschädigten hingegen seinen vollen Anspruch ­gegen die nicht privilegierten Schuldner und verweigert man diesen den Innenausgleichsanspruch im ­Umfang des Anteils des privilegierten Gesamtschuldners, dann tragen die nicht privilegierten Gesamtschuldner den Nachteil aus der Haftungsvergünstigung. Ein dritter Lösungsweg besteht darin, dem Geschädigten seinen vollen Anspruch gegen die nicht privilegierten Gesamtschuldner ebenso zu belassen wie den nicht privilegierten Gesamtschuldnern den ungekürzten Innenausgleichsanspruch gegen den privilegierten Gesamtschuldner. Dann verliert letzterer im Ergebnis den Vorteil aus seiner Haftungsvergünstigung, es sei denn, ihm steht eine Möglichkeit zur Verfügung, seinen Verantwortungsanteil auf den Geschädigten abzuwälzen. Welche dieser drei Lösungen zu bevorzugen ist, entscheidet die Rechtsprechung im Einzelfall je nach der Art und der Zweckbestimmung des konkreten Privilegs.

1. Vertragliche Haftungsprivilegien

 

Rz. 1158

Vertragliche Haftungsfreistellungen können vor oder nach der Entstehung der Gesamtschuld vereinbart werden. Hat der Geschädigte mit einem der Gesamtschuldner eine Haftungsprivilegierung vereinbart, bleibt dieser im Ausgleichsverhältnis grundsätzlich voll verpflichtet. Solche Vereinbarungen hätten andernfalls die Wirkung eines unzulässigen Vertrages zu Lasten Dritter.[3367] Der begünstigte Mitschuldner hat sich zur Durchsetzung seines Privilegs an den Gläubiger zu halten. Dies folgt aus dem Grundsatz, dass der Gläubiger und ein Mitschuldner nicht zu Lasten anderer Mitschuldner vertraglich über die Verhältnisse des Innenausgleichs disponieren können,[3368] es sei denn, die weiteren Gesamtschuldner sind an der Vereinbarung rechtsgeschäftlich beteiligt.[3369] Dies gilt für alle Arten von vertraglichen Haftungsbeschränkungen einschließlich einer Vereinbarung über die Verjährung, die den Ausgleich als solchen unberührt lässt. Möglich ist auch eine Haftungsverzichtserklärung von Teilnehmern einer Veranstaltung, bei der Kraftfahrzeuge auf einer geschlossenen Strecke bewegt werden, gegenüber dem Veranstalter ­zugunsten anderer Teilnehmer.[3370] Sind die anderen Gesamtschuldner in den Schutzbereich der Vereinbarung einbezogen, dann ist das Ausgleichsverhältnis nicht mehr gestört, weil die Verpflichtungen der anderen Gesamtschuldner im Außenverhältnis entsprechend der weggefallenen oder beschränkten Quote reduziert sind. In vielen Fällen ergibt sich dies schon durch Auslegung der privilegierenden Vereinbarung.[3371]

 

Rz. 1159

Beim gestörten Gesamtschuldverhältnis zwischen dem – gesetzlich – privilegierten Erstschädiger und dem Zweitschädiger gilt, dass vertragliche Regelungen einer Haftungsfreistellung des Zweitschädigers im Verhältnis zum privilegierten Erstschädiger grundsätzlich nur berücksichtigt werden, wenn die Haftungsfreistellung nicht nur die wirtschaftlichen Folgen der Haftung, sondern zugleich auch die Zuständigkeit zur Schadensverhütung umfasst.[3372] Übernimmt beispielsweise der nicht privilegierte Zweitschädiger gegenüber dem privilegierten Erstschädiger die Verkehrssicherungspflicht, ist eine in diesem Rahmen getroffene Vereinbarung, wonach der privilegierte Erstschädiger den Zweitschädiger ausschließlich von den Folgen seiner Haftung freistellt, ohne ihn von seinen Aufgaben für die Schadensverhütung zu entlasten, gegenüber dem Geschädigten nicht beachtlich.[3373]

[3367] Vgl. BGH, Urt. v. 2.4.2004 – V ZR 267/03, Rn 24, juris = NJW-RR 2004, 1243.
[3368] Vgl. BGH, Urt. v. 11.6.1992 – IX ZR 161/91, Rn 21, juris = NJW 1992, 2286.
[3369] Vgl. BGH, Urt. v. 9.3.1972 – VII ZR 178/70, Rn 14, juris = BGHZ 58, 216.
[3370] Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.1.1984 – 1 U 158/12, Rn 62, juris = NJW-RR 2014, 692 m.w.N.
[3371] Vgl. BGH, Urt. v. 27.2.1989 – II ZR 182/88, Rn 14, juris = NJW 1989, 2386.

2. Haftungsprivilegien der gesetzlichen Unfallversicherung

 

Rz. 1160

Die sozialrechtlichen Haftungsbeschränkungen des gesetzlichen Unfallversicherungsrechts (§§ 104 ff. SGB VII – früher §§ 636, 637 RVO) stellen die Unternehmer und die Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen von der persönlichen Haftung frei, soweit es sich um Personenschäden in Folge eines Arbeitsunfalls handelt (vgl. dazu § 38 Rdn 204 ff.). Entsprechendes gilt bei Schulunfällen (vgl. dazu...

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