Rz. 580

Hier stellt sich bei Unfällen im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr die Frage, ob den minderjährigen Schädiger sofort die volle Verantwortlichkeit trifft. Dies würde bedeuten, dass ein Kind, das am Vorabend seines zehnten Geburtstags einen Verkehrsunfall verursacht, überhaupt nicht haftet, wenn der Unfall indes zwei Tage später geschieht, haftet es möglicherweise zu 100 %. Dieses Ergebnis erscheint schwer erträglich. Die entwicklungspsychologischen Umstände können sich nicht binnen zwei Tagen vollständig ändern. Eine dem gesetzlichen Anliegen des § 828 Abs. 2 BGB Rechnung tragende Regulierung bzw. Rechtsprechung muss deshalb darauf achten, dass dem Entwicklungsfortschritt bei der Quotierung von Unfallschäden angemessen Rechnung getragen wird. Insoweit findet erfreulicherweise ein Umdenken statt. In der Literatur ist dieses Problem z.B. ausführlich von Lang erörtert worden.[1709] Die Rechtsprechung des BGH, wonach das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB in der Neufassung nicht zu einer Änderung der Darlegungs- und Beweislast für Schadensfälle führt, die sich vor dem 1.8.2002 ereignet haben,[1710] steht einer Berücksichtigung entwicklungsbedingter Umstände auch nach Vollendung des zehnten Lebensjahrs nicht entgegen. Der 51. Verkehrsgerichtstag 2013 in Goslar hat sich mit dem Thema beschäftigt[1711] und u.a. die Empfehlung abgegeben, die individuelle Einsichtsfähigkeit bei Kindern oberhalb der Haftungsgrenze von zehn Jahren durch Sachverständigengutachten gründlich zu überprüfen.[1712]

 

Rz. 581

Eine Reihe von Gerichten nehmen offenbar an, dass § 828 Abs. 2 BGB eine starre Altersgrenze statuiert, jenseits derer Kinder bei der Haftungsabwägung wie Erwachsene zu behandeln sind:

OLG Hamm, Urt. v. 13.7.2009 – 13 U 179/08, r+s 2010, 299, Nichtannahme der Revision durch BGH, Beschl. v. 9.3.2010 – VI ZR 296/09: volle Haftung eines Jungen, der sieben Tage nach dem zehnten Geburtstag hinter einem an einer Ampel stehenden Lkw über die Straße rannte und dabei von einem ordnungsgemäß fahrenden PKW erfasst wurde.
OLG Naumburg, Beschl. v. 9.1.2013 – 10 U 22/12, NJW-Spezial 2013, 203: Rennt ein elfjähriges Kind bei Dunkelheit zwischen parkenden Fahrzeugen hindurch auf die Fahrbahn und wird dort von einem mit 23–30 km/h fahrenden Pkw erfasst, so haftet das Kind allein. Das Mädchen, welches das herannahende Fahrzeug wahrgenommen hatte, habe sich zur Fahrbahnüberquerung entschlossen, obwohl Gleichaltrige sie verbal daran zu hindern versucht hätten. Sie habe grundsätzlich die Fähigkeit zur Einsicht ihrer Verantwortlichkeit bei völlig unvernünftigem Überqueren der Straße zwischen parkenden Autos trotz nahenden Verkehrs bei Dunkelheit und in die grobe Verkehrswidrigkeit dieses Verhaltens gehabt.
OLG Nürnberg, Urt. v. 14.7.2005 – 13 U 901/05, VersR 2006, 1513, Nichtannahme der Revision durch BGH: volle Haftung eines am Unfalltag 12 ½ Jahre alten Jungen, der beim Abbiegen mit dem Fahrrad auf einer abschüssigen Straße in einer Kurve auf Grund zu hoher Geschwindigkeit gegen den PKW des Beklagten stieß. Der Bundesgerichtshof hat in dem Nichtannahmebeschluss[1713] ausgeführt: Bereits seiner bisherigen Rechtsprechung[1714] lasse sich entnehmen, dass durch die Änderung des § 828 BGB die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von Verkehrsteilnehmern ab dem beginnenden zehnten Jahr nicht geringer anzusetzen seien als nach der bisherigen Rechtslage. Daraus folge, dass eine Abwägung dahin, dass der Jugendliche alleine hafte, weiterhin möglich sei, wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last falle, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lasse. Gemessen daran und an den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof an eine überwiegende Mithaftung von Kindern und Jugendlichen stelle,[1715] liege die Entscheidung des Berufungsgerichts im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums.
LG Köln, Beschl. v. 26.2.2010 – 2 O 576/09, Schaden-Praxis 2010, 353: kein Schadensersatzanspruch eines von einem PKW angefahrenen elfjährigen Kindes wegen groben Mitverschuldens, weil es eine mehrspurige Straße unachtsam überquerte.
AG Wismar, Urt. v. 9.11.2005 – 12 C 298/05, Schaden-Praxis 2006, 90: Kommt es auf einer Kreuzung zwischen einem vorfahrtberechtigten Pkw und einem zwölfjährigen Radfahrer, der ein Stoppschild missachtet und die Kurve schneidet, zu einer Kollision, so hat der Radfahrer zu 100 % für die Unfallfolgen einzustehen.
AG Nordhorn, Urt. v. 13.11.2003 – 3 C 1039/03, NZV 2004, 465: Volle Haftung eines 13-jährigen Radfahrers, der "unter (grober) Missachtung der Vorfahrt des fließenden Verkehrs" eine Kreisstraße überquert und mit einem Kraftfahrzeug zusammenstößt.
AG Halle/Saale, Urt. v. 7.2.2012 – 104 C 4653/10, juris: Außer in Fällen außergewöhnlicher Reifeverzögerungen könne von einem zwölfjährigen Kind erwartet werden, dass es die Grundregeln der Teilnahme am Straßenverkehr kennt und sich beim Fahren mit dem Fahrrad verkehrsgerecht verhalten könne. Ein K...

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