Rz. 155

Nach dem Tarifvorrang[473] des § 87 Abs. 1 ES BetrVG ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in den sozialen Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 Nr. 1–13 BetrVG dort ausgeschlossen, wo eine tarifliche Regelung besteht ("Tarifsperre"[474]).

Ob die tarifliche Regelung abschließend ist und damit das Mitbestimmungsrecht ausschließt, ist durch Auslegung zu ermitteln.[475] Verbleibt dem Arbeitgeber ein Regelungsspielraum, greift das Mitbestimmungsrecht ein.[476] Besteht eine abschließende tarifliche Regelung, sind abweichende oder ergänzende Betriebsvereinbarungen nur zulässig, soweit der Tarifvertrag diese ausdrücklich zulässt (sog. Öffnungsklausel).[477]

 

Rz. 156

Die tarifliche Regelung muss im relevanten Betrieb gelten.[478] Anders als beim Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG setzt das Bestehen einer tariflichen Regelung i.S.d. § 87 Abs. 1 ES BetrVG weiter voraus, dass der Arbeitgeber an die tarifliche Regelung gebunden ist.[479] Weder schließt die bloße Üblichkeit einer tariflichen Regelung das Mitbestimmungsrecht aus, noch ein nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkender Tarifvertrag.[480] Auch ein nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses transformierter Tarifvertrag schließt die Mitbestimmung nicht aus.[481] Auf die Tarifbindung der Arbeitnehmer kommt es nicht an.[482] Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG erhält also in Betrieben nicht tarifgebundener Arbeitgeber ein größeres Gewicht.[483]

 

Rz. 157

Liegt eine soziale Angelegenheit des § 87 Abs. 1 Nr. 1–13 BetrVG vor, kommt es auf den Vorbehalt tariflicher Regelung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht an (sog. Vorrangtheorie).[484] Vielmehr ist in den Regelungsbereichen des § 87 Abs. 1 BetrVG allein maßgeblich, ob eine abschließende tarifliche Regelung besteht, an die der Arbeitgeber gebunden ist.[485] Fehlt eine solche (etwa weil der Arbeitgeber mangels Verbandsmitgliedschaft nicht an die tarifliche Regelung gebunden ist), können die Betriebsparteien die soziale Angelegenheit auch dann regeln, wenn diese Materie üblicherweise Gegenstand von Tarifverträgen ist.[486] Die Mitbestimmungspflichtigkeit eines Teils der Regelungen führt aber nicht etwa dazu, dass der Tarifvorbehalt auch für die mitbestimmungsfreien Regelungen aufgehoben wäre – vielmehr reicht der Tarifvorrang nur soweit, wie eine auch mitbestimmungspflichtige soziale Angelegenheit vorliegt.[487] Es ist im Zweifel auf den Schwerpunkt der zu regelnden Materie abzustellen.[488]

 

Rz. 158

 

Hinweis

Nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Die Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gewährleisten.[489] Dazu räumt sie den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsprärogative ein.[490] Das Günstigkeitsprinzip findet auf das Verhältnis von Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag nach der Rechtsprechung keine Anwendung;[491] nach der gesetzlichen Konzeption kann es nicht zu Überschneidungen kommen.

Anders als der Tarifvorrang nach § 87 Abs. 1 ES BetrVG greift die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG bereits ein, wenn der Betrieb vom räumlichen, betrieblichen, fachlichen und personellen Geltungsbereich des Tarifvertrages erfasst ist.[492] Auf die Tarifbindung des Arbeitgebers kommt es für den Tarifvorbehalt nicht an.[493] Es genügt, dass die Regelung der betreffenden Materie in Form eines Tarifvertrags in der entsprechenden Branche üblich ist.[494] Eine gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung über Regelungsgegenstände außerhalb des § 87 Abs. 1 BetrVG ist schwebend – oder endgültig – unwirksam.[495]

[473] Fitting u.a., § 87 BetrVG Rn 39 ff.
[474] BAG 18.3.2014 – 1 ABR 75/12 – NZA, 2014, 984; BAG 10.12.2013 – 1 ABR 39/, NZA 2014, 1040.
[475] GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rn 106; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rn 304; Fitting u.a., § 87 BetrVG Rn 48 ff.
[477] GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rn 145.
[478] Fitting u.a., § 87 BetrVG Rn 43 ff.
[480] GK-BetrVG/Wiese, § 87 Rn 78; Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rn 152; Preis/Greiner, § 149 Rn 2211.
[481] Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rn 152.
[482] BAG 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rn 265; zum Meinungsstand der Notwendigkeit der Tarifbindung des Arbeitnehmers Preis/Greiner, § 149 Rn 2214 ff.; zur Tarifpluralität und ihrer Auswirkung auf den Gesetzesvorrang Preis/Greiner, § 149 Rn 2213.
[483] Fitting u.a., § 87 BetrVG Rn 45.
[484] St. Rspr. seit BAG GS 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 662; BAG 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990; BAG 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393.

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