Rz. 225

Im Falle eines komplexen Bauvorhabens können im Zeitpunkt der Abnahme diverse ­Einzelleistungen schon seit langem (und auch vertragsgemäß) erbracht – ggf. nach der Fertigstellung aber auch wieder beschädigt oder zerstört – worden sein. Dabei trägt grundsätzlich der Unternehmer bis zur Abnahme des Werks die Leistungs- und Vergütungsgefahr. Bei Nichtabnahme des Bauwerks bzw. einer Außenanlage, weil zwischen den Vertragsparteien Streit über die Abnahmereife des Werks herrscht, besteht das praktisches Bedürfnis einer Dokumentation des Werkzustands im Zeitpunkt des Abnahmeverlangens, um die Sachaufklärung in einem nachfolgenden Prozess zu erleichtern – vor allem dann, wenn der Besteller das Werk (ohne vorherige Abnahme) bereits in Benutzung genommen hat.[389] Die Zustandsfeststellung erleichtert dem Unternehmer den Nachweis, dass nicht er, sondern ggf. der Besteller für eine Beschädigung (die im Nachgang auftritt) verantwortlich ist.[390]

 

Rz. 226

Oftmals stellt sich im Nachgang zur Werkerstellung die Frage, ob ein später festgestellter Mangel aus dem Verantwortungsbereich des Bestellers oder jenem des Unternehmers herrührt. Der Unternehmer hat ein anerkennungswertes Interesse daran, dass die Vertragsgemäßheit seiner Leistung festgestellt wird, um damit auch den Gefahrübergang herbeiführen zu können. Ein Bedürfnis nach Dokumentation besteht gleichermaßen aber auch dann, wenn sowohl der Unternehmer als auch der Besteller sich einig darüber sind, dass das Werk nicht "abnahmereif" ist.[391]

 

Rz. 227

 

Beachte:

Unbeschadet des § 650g BGB kann der Unternehmer aber auch eine fiktive Abnahme nach § 640 Abs. 2 BGB herbeiführen oder ein selbstständiges Beweisverfahren gemäß §§ 485 ff. ZPO beantragen.

 

Rz. 228

§ 650g BGB fordert im Nachgang zu der durch die BGH-Judikatur entwickelten beiderseitigen Pflicht der Vertragsparteien zur Kooperation[392] vom Besteller die Mitwirkung an einer gemeinsamen Zustandsfeststellung.[393]

[389] RegE, BT-Drucks 18/8486, S. 60.
[390] RegE, BT-Drucks 18/8486, S. 59.
[391] RegE, BT-Drucks 18/8486, S. 60.
[392] Vgl. etwa BGH NJW 2003, 2678 und 2000, 807.
[393] Dazu näher Breitling, NZBau 2017, 393, 395; Retzlaff, BauR 2017, 1791 und 1822; Tschäpe/Werner, ZfBR 2017, 419.

1. Gemeinsame Zustandsfeststellung bei Verweigerung der Abnahme durch den Besteller unter Angabe von Mängeln

 

Rz. 229

Verweigert der Besteller die Abnahme (des abnahmefähigen Bauwerks oder der entsprechenden Außenanlage) unter Angabe (Rüge) von Mängeln (konkretisierte Abnahmeverweigerung),[394] hat er auf Verlangen des Unternehmers (Mitwirkungsverlangen)[395] nach § 650g Abs. 1 S. 1 BGB an einer gemeinsamen Feststellung des Zustands des Werks mitzuwirken[396] (i.S. einer vom Besteller bestätigten schriftlichen Dokumentation [Darstellung] des äußeren Zustands des Werks im Zeitpunkt der Feststellung).[397]

 

Rz. 230

Dabei handelt es sich bei § 650g Abs. 1 S. 1 BGB um eine Gläubigerobliegenheit i.S. einer Obliegenheit des Bestellers (hingegen um keine Verpflichtung des Bestellers mit korrespondierendem Anspruch des Unternehmers), an einer Zustandsfeststellung bei Abnahmeverweigerung mitzuwirken. Obliegenheit bedeutet, dass der Besteller im "wohlverstandenen Eigeninteresse" an der Zustandsfeststellung teilnehmen sollte, um einem Rechtsverlust zu begegnen: Wirkt der Besteller an der Zustandsfeststellung nicht mit, kann der Unternehmer nach Maßgabe von § 650g Abs. 2 BGB (nachstehende Rdn 237 ff.) eine einseitige Zustandsfeststellung vornehmen, die dann die Rechtsfolgen nach § 650g Abs. 3 BGB (Rdn 244 ff.) zeitigt.

 

Rz. 231

Es reicht aus – so Oberhauser[398]  –, dass der Besteller die Verweigerung der Abnahme mit "einem" Mangel begründet.

 

Rz. 232

 

Beachte:

Die Zustandsfeststellung ersetzt weder die Abnahme noch zeitigt sie sonstige Ausschlusswirkungen. Sie hat ausschließlich Dokumentationsfunktion in Bezug auf den Zustand des Werks. Zudem ist sie Grundlage für eine modifizierte Gefahrtragung.[399]

 

Rz. 233

 

Beachte zudem:

§ 650g BGB ist eine Ergänzung des § 640 Abs. 2 BGB zur fiktiven Abnahme. Wenn der Besteller nämlich nach einem Abnahmeverlangen des Unternehmers gemäß § 640 Abs. 2 BGB nicht reagiert oder die Abnahme nicht innerhalb der ihm vom Unternehmer gesetzten angemessenen Frist unter Angabe mindestens eines (nicht notwendigerweise wesentlichen) Mangels (die Benennung eines auch nur "unwesentlichen Mangels" reicht aus)[400] verweigert, greift die gesetzliche Abnahmefiktion des § 640 Abs. 2 S. 1 BGB (als angemessener Interessenausgleich zwischen Besteller und Unternehmer): Das Werk gilt als abgenommen.

 

Rz. 234

Nach § 650g Abs. 1 BGB kann der Unternehmer – wenn der Besteller die Abnahme verweigert – verlangen, dass der Besteller an einer gemeinsamen Feststellung des Zustands des Werks mitwirkt (zu der der Unternehmer nach § 650g Abs. 2 BGB mit dem Besteller entweder einvernehmlich einen Termin vereinbart oder, wenn der Besteller sich einer Terminvereinbarung verweigert, innerhalb einer angemessenen Frist einen Termin bestimmt).

[394] Palandt/Sprau, § 650g BGB Rn 4: Notwendigkeit einer Benennung einzelner (nicht aller), konkreter Mängelsymptome.
[395] Dazu...

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