I. Der ordre public im internationalen Pflichtteilsrecht

1. Notwendigkeit eines ordre public-Vorbehalts

 

Rz. 227

 

Beispiel[182]

Der ägyptische Erblasser hatte 1984 in Hamburg eine Deutsche geheiratet. Im Jahre 2013 kehrte er nach Ägypten zurück. Seine Ehefrau blieb in Hamburg. Er hinterließ neben seiner Witwe eine Tochter und einen Sohn. Die Kinder sind beide getauft und leben in Deutschland. Einen in Alexandria lebenden Neffen hat er testamentarisch zum Alleinerben eingesetzt. Dieser nimmt nun den gesamten Nachlass in Besitz, da die Ehefrau und die Kinder nach dem islamisch geprägten Erbrecht im ägyptischen Recht[183] als Ungläubige nach ihrem muslimischen Vater keinerlei gesetzliches Erbrecht hätten. Steht der Ehefrau und den Kindern ein Pflichtteil zu?

 

Rz. 228

Die kollisionsrechtliche Verweisung auf das am gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Ausland geltende Recht gem. Art. 21 EUErbVO ist ergebnisoffen. Anders als z.B. durch die alternative Anknüpfung des Testamentsformstatuts in Art. 27 EUErbVO wird nicht ein bestimmtes Ergebnis begünstigt, sondern jede Entscheidung des ausländischen Rechts hingenommen. Eine "Notbremse" enthält hier Art. 35 EUErbVO (Vorbehaltsklausel bzw. ordre public): Eine ausländische Rechtsnorm ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. Der praktische Hauptanwendungsbereich des ordre public liegt im Familienrecht.[184] Dennoch zieht die Literatur seine Anwendung auch bei der gesetzlichen Erbfolge und im Pflichtteilsrecht in Betracht. Im Einzelnen ergeben sich nachfolgende Tatbestandsvoraussetzungen.

[182] Vgl. OLG Hamm IPRax 1994, 49 = FamRZ 1993, 111.
[183] Scholz, in: Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann, Ägypten Grdz. E Rn 44; Sure 4 Vers 13 des Koran, dazu St. Lorenz, IPRax 1993, 148.
[184] BGH NJW-RR 2007, 145: Verletzung des deutschen ordre public, wenn in Deutschland lebende katholische Syrer trotz Zerrüttung der Ehe nach kanonischem Recht nicht geschieden werden können.

2. Ergebnis der Rechtsanwendung

 

Rz. 229

Allein das (Gesamt-)Ergebnis der Rechtsanwendung ist Gegenstand der Kontrolle. Da der ausländische Gesetzgeber nicht deutschem Verfassungsrecht unterliegt, ist eine abstrakte Kontrolle der Regeln des ausländischen Erbrechts anhand der deutschen Grundrechte nicht möglich. Auch mit den Grundregeln des deutschen Rechts unvereinbare Regeln sind daher anzuwenden, soweit sie zu einem Ergebnis führen, das aus deutscher Sicht hinnehmbar ist. "Ergebnis der Rechtsanwendung" bedeutet insbesondere, dass sämtliche Möglichkeiten des ausländischen Sachrechts wie auch des deutschen IPR auszuschöpfen sind:

Die einseitige Verstoßung der deutschen Ehefrau durch ihren muslimischen Ehemann (talaq) ist anzuerkennen, wenn die Ehefrau ohnehin mit der Scheidung einverstanden war oder auch nach deutschem Recht gerichtlich hätte geschieden werden können. Die Scheidung ist in solchen Fällen akzeptabel.[185]
Fehlende Pflichtteile von Abkömmlingen oder des Ehegatten werden im ausländischen Recht vielfach bei Bedürftigkeit durch Unterhaltsansprüche kompensiert. Durch eine funktionelle Qualifikation dieser Ansprüche kann man diese zum Erbstatut ziehen (siehe Rdn 205) bzw. bei unterschiedlichem Erb- und Unterhaltsstatut im Wege der Angleichung (siehe Rdn 267) Versorgungslücken vermeiden.
In der Literatur wird häufiger darauf hingewiesen, das entsprechende ausländische Recht kenne ja Pflichtteile generell, so dass dieses Recht nicht gegen den ordre public verstoße. Das freilich verfängt nicht. Bei Geltung englischen Erbrechts hilft den enterbten Kindern nicht der Hinweis darauf, die Witwe habe ja einen Pflichtteil. Auch kann man die zugunsten der Kinder enterbte konkret pflichtteilslose Ehefrau bei Geltung französischen Erbstatuts nicht damit trösten, sie habe einen Pflichtteil, wenn die Kinder bei Eintritt des Erbfalls bereits vorverstorben wären.
Eine sehr niedrige oder fehlende Ehegattenerbquote wird erträglich, wenn § 1371 Abs. 1 BGB eingreift oder der Ertrag aus einer güterrechtlichen Auseinandersetzung in die Betrachtung einbezogen wird.[186]
 

Rz. 230

Im Beispiel sind die "ungläubigen" Kinder und die Ehefrau aufgrund ihrer Konfession vollständig von der Erbfolge ausgeschlossen. Damit ist kein "Zwischenergebnis" betroffen.[187]

 

Rz. 231

Das OLG Hamm[188] hatte einmal das höhere gesetzliche Erbrecht des Sohnes im Vergleich zu seiner Schwester bei der Erbfolge nach einem Iraner unbeanstandet gelassen, weil ein solches Ergebnis auch darauf beruhen könne, dass der Erblasser eine entsprechende letztwillige Verfügung getroffen oder die Schwester auf die Hälfte ihres Erbrechts verzichtet hat. Diese Überlegung ist unzutreffend, da im zugrunde liegenden Fall die geringere Erbquote der Tochter gerade nicht auf einem entsprechenden testamentarisch niedergelegten Willen des Erblassers beruhte, sondern auf dem Gesetz und dieses ausschließlich aufgrund der unterschiedlichen Geschlechtszugehörigkeit differenziert.[189] Anderes könnte in dem Fall gelten, dass der Erblasser nur deswegen von einer (ihm nach dem ägyptischen Recht ohnehin nur...

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