Rz. 204
Auch zwischen Pflichtteils- und Unterhaltsstatut ergeben sich Berührungspunkte, da das Pflichtteilsrecht häufig Versorgungsfunktionen erfüllt. So erhält z.B. der im französischen Recht neben Abkömmlingen pflichtteilslose Ehegatte im Fall seiner Bedürftigkeit einen Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass (Art. 767 c.c.). Die Gewährung der family provision in England, Neuseeland und Kanada für Kinder, Verwandte, nichteheliche Lebensgefährten und andere Personen ist davon abhängig, dass diese minderjährig oder auf andere Weise bedürftig sind. Dabei wird für die Bemessung der Beträge auf die Bedürftigkeit abgestellt; ggf. können zeitlich begrenzte oder lebenslange Rentenzahlungen durch das Gericht angeordnet werden.[158]
Rz. 205
Damit stellt sich die Frage, ob diese Ansprüche erb- oder unterhaltsrechtlich zu qualifizieren sind. Das auf den Unterhaltsanspruch anwendbare Recht bestimmt sich seit dem 18.6.2011 nach dem Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (Haager Unterhaltsprotokoll – HUP).[159] Art. 3 Abs. 1 HUP unterstellt den Unterhaltsanspruch grundsätzlich dem am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten geltenden Sachrecht. Wegen der unterschiedlichen Bezugspersonen für die Anknüpfung divergieren Erb- und Unterhaltsstatut in internationalen Fällen häufiger, so dass die Zuordnung zu dem einen oder anderen Recht praktisch bedeutsam wird.
Rz. 206
Bei der Abgrenzung scheint man über folgende Punkte einig geworden zu sein:
▪ | Das Unterhaltsstatut entscheidet nur über Voraussetzungen und Höhe eines lebzeitigen Unterhaltsanspruchs und darüber, ob dieser mit dem Tod des Unterhaltsschuldners oder Unterhaltsgläubigers erlischt. |
▪ | Aus dem Erbstatut ergibt sich, auf wen vor dem Erbfall bereits entstandene Unterhaltsverbindlichkeiten des Erblassers mit dem Erbfall übergehen. |
Rz. 207
Umstritten ist dagegen, ob Ansprüche auf laufende Unterhaltszahlungen, die nach dem oder aufgrund des Erbfalls entstehen, erb- oder unterhaltsrechtlich zu qualifizieren sind. Nach einer Ansicht sind auf laufende Beiträge zum Lebensunterhalt gerichtete Forderungen als Unterhaltsansprüche stets unterhaltsrechtlich zu qualifizieren, und zwar selbst dann, wenn sie nach dem Tod des Erblassers entstehen und ein fehlendes Erbrecht ausgleichen sollen.[160] Da der Unterhaltsanspruch hier an die Stelle eines fehlenden Erb- bzw. Pflichtteilsrechts tritt (bzw. umgekehrt), kann es bei divergierenden Erb- und Unterhaltsstatut zu Normenhäufungen (der Begünstigte wird sowohl erb- als auch unterhaltsrechtlich entschädigt) oder zu Normenmangel-Situationen[161] (der Bedürftige erhält weder nach Erbstatut einen Pflichtteil noch aus dem Unterhaltsstatut einen postmortalen Unterhaltsanspruch, obwohl jede der beiden Rechtsordnungen ihn – wenn auch auf dem jeweils anderen Weg – berücksichtigen würde) kommen. Diese sollen im Wege der Angleichung korrigiert werden.
Rz. 208
Hiergegen ergeben sich praktische Bedenken. So ist die Angleichung aufwendig, da sie einen umfassenden Vergleich der beteiligten Rechtsordnungen erfordert. Aufgrund der unterschiedlichen Methoden zur Durchführung der Angleichung sind die Ergebnisse nicht vorhersehbar. Ungelöst bleibt schließlich die Frage, ob es sich bei dem geltend gemachten Recht überhaupt um einen "Unterhaltsanspruch" handelt oder nicht vielmehr um einen "verrenteten Pflichtteil". Dies betrifft z.B. die family provision englischen Rechts, die in gleicher Weise als laufende Rente wie auch als einmalige Abfindung gewährt werden kann.
Rz. 209
Mittlerweile zeichnet sich daher eine Mehrheit für eine erbrechtliche Qualifikation ab. Sie weist darauf hin, dass es sich um Erbfallschulden handele bzw. die Unterhaltspflicht an die Stelle eines Erbteils (bzw. eines Pflichtteils) trete.[162]
Rz. 210
Zwar spricht die Bemessung der Ansprüche anhand der Bedürftigkeit des Berechtigten vordergründig für eine unterhaltsrechtliche Qualifikation. Auch dem Pflichtteilsrecht kommt aber unterhaltssichernde Funktion zu. Entscheidend dürfte vielmehr sein, dass es um die gerechte Verteilung des Nachlasses unter die Hinterbliebenen und um die Schranken geht, die dem Erblasser für die Verfügungen über seinen Nachlass gezogen werden. Damit dominiert der pflichtteilsrechtliche Charakter.
Rz. 211
Einen vergleichbaren Lösungsansatz verfolgt auch die Erbrechtsverordnung: Art. 1 Abs. 2 lit. e EUErbVO nimmt zwar die Unterhaltspflichten vom Anwendungsbereich der Verordnung grundsätzlich aus. Unterhaltspflichten, die mit dem Tod entstehen, werden aber von diesem Vorbehalt ausgenommen. Daraus muss man ableiten, dass insoweit die erbrechtliche Qualifikation eröffnet ist.[163]
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