Rz. 84

Ergibt sich ausnahmsweise aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine "offensichtlich engere Verbindung" zu einem anderen als dem Staat hatte, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so ist auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gem. Art. 21 Abs. 2 EUErbVO das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.

 

Rz. 85

Diese Regelung kam angeblich gegen Ende des Gesetzgebungsverfahrens auf Anforderung durch die Vertreter des Vereinigten Königreichs in den Verordnungsentwurf hinein. Der Sinn dieser Klausel erschließt sich nur schwer. Geht man mit der Rechtsprechung des EuGH und den Erwägungsgründen 23, 24 der EUErbVO davon aus, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der Erbrechtsverordnung nach "erbrechtsspezifischen" Maßstäben bestimmt, so fließen die Wertungen, die die Ausweichklausel in Art. 21 Abs. 2 EUErbVO berücksichtigen soll, bereits in die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts ein. Die Offenheit des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts macht dann diese Korrekturklausel überflüssig.[61] Die in der Literatur teilweise angebotenen Beispielsfälle für die Ausweichklausel (Demenzkranke, die von ihren Kindern in ein ausländisches Pflegeheim gegeben wurden, etc.) lassen sich m.E. überwiegend auch mit einer "erbrechtsspezifischen" Interpretation des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts angemessen lösen.

 

Rz. 86

Folgende Fälle erscheinen ebenfalls ungeeignet:

Ist der Erblasser erst kurz vor seinem Tode in einen anderen Staat umgezogen, so ist es angemessen, die Erbfolge dem Recht der "neuen Heimat" zu unterstellen, sollte er dort tatsächlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben. Sollte er dagegen weiterhin erheblich engere Bindungen zu einem anderen Staat beibehalten haben (vgl. das Beispiel in Erwägungsgrund 25 S. 1 der EUErbVO), so spricht m.E. alles dafür, dass er den alten gewöhnlichen Aufenthalt nicht aufgegeben hat.
Wird ein pflegebedürftiger Erblasser von seinem Betreuer oder seinen Kindern in ein Heim jenseits der Grenze verbracht (weil dort die Pflege preisgünstiger ist, die Kinder dort leben oder das Wetter dort schöner ist), so wird es häufig zu keiner sozialen Integration kommen, wenn er passiv bleibt und die Grenzen des Sanatoriums nicht verlässt.[62] Der Fall ist mithin nicht mit der Ausweichklausel zu lösen, sondern schon mit der Formel des EuGH zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts.
Verlagert der Erblasser seinen Wohnsitz in ein "Pflichtteilsparadies", um seinen Ehegatten oder die Abkömmlinge effektiv vom Nachlass auszuschließen, so muss man differenzieren: Hält der Erblasser erhebliche Verbindungen zum ursprünglichen Aufenthaltsstaat aufrecht, so hat er möglicherweise nur scheinbar einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, eigentlich aber den alten Lebensmittelpunkt beibehalten. Hier läge dann keine Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts, sondern nur eine Simulation vor (dazu Rdn 253). Hat der Erblasser aber konsequent mit dem ursprünglichen Aufenthaltsstaat abgebrochen, so gibt für ihn es keine "engere Beziehung" mehr dorthin, sondern allenfalls für seine Hinterbliebenen. In diesem Fall ist das Recht des neuen Aufenthaltsstaates anzuwenden; Auswüchsen begegnet man durch Art. 35 EUErbVO (dazu Rdn 227).
 

Rz. 87

Damit ergibt sich m.E. für die Ausweichklausel weder ein praktisches Bedürfnis noch ein praktischer Anwendungsbereich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Klausel in unpassenden Fällen von Gerichten missinterpretiert wird. Auch diese Gefahr ist allerdings gering, denn die internationale Zuständigkeit bleibt gem. Art. 4 ff. EUErbVO regelmäßig in dem Staat bestehen, in dem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das Gericht müsste also über Art. 21 Abs. 2 EUErbVO statt der lex fori ein ihm fremdes Recht anwenden.

[61] Kritisch daher auch Audit, Droit International Privé, Paris 2013, Rn 1007; Burandt, in: Burandt/Rojahn, ErbR, 2. Aufl. 2014, Art. 21 EuErbVO Rn 8; Dutta, FamRZ 2013, 8; Vollmer ZErb 2012, 231.
[62] Odersky, notar 2013, 5; Palandt/Thorn, Art. 21 EuErbVO Rn 6.

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