Rz. 63

Der Tatbestand des Urteils liefert gem. § 314 S. 1 ZPO Beweis für das mündliche Parteivorbringen. Er kann nur durch das Sitzungsprotokoll entkräftet werden (§ 314 S. 2 ZPO).[111] Zum Tatbestand gehören nicht nur die tatsächlichen Feststellungen, die im erstinstanzlichen Urteil unter der Rubrik "Tatbestand" festgestellt werden; vielmehr zählen hierzu auch die tatsächlichen Feststellungen in den Entscheidungsgründen.[112]

 

Rz. 64

Einem Tatbestand kommt keine Beweiswirkung zu, wenn und soweit er Widersprüche, Lücken oder Unklarheiten aufweist.[113] Erforderlich hierfür ist ein Widerspruch zwischen den tatbestandlichen Feststellungen und dem konkret in Bezug genommenen schriftsätzlichen Vorbringen einer Partei.[114] Lassen sich die Widersprüche, Lücken oder Unklarheiten dagegen nur durch Rückgriff auf gem. § 313 Abs. 2 S. 2 ZPO allgemein in Bezug genommene vorbereitende Schriftsätze darstellen, bleibt es bei der Beweiswirkung des § 314 ZPO und dem Grundsatz, dass der durch den Tatbestand des Urteils erbrachte Beweis nur durch das Sitzungsprotokoll entkräftet werden kann.[115]

 

Rz. 65

Unter Sitzungsprotokoll im Sinne des § 314 S. 2 ZPO ist nur das Protokoll über die Verhandlung zu verstehen, aufgrund derer das Urteil ergangen ist; durch den widersprechenden Inhalt eines früheren Sitzungsprotokolls wird die Beweiskraft des Tatbestands nicht entkräftet.[116] Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn ein im Tatbestand aufgeführtes Vorbringen ausdrücklich einem bestimmten Verhandlungstermin zugeordnet wird und diese Feststellung dem Protokoll über diese Sitzung widerspricht.[117] Der nach § 314 S. 1 ZPO erbrachte Beweis kann durch das Sitzungsprotokoll gem. § 314 S. 2 ZPO nur entkräftet werden, wenn die dort getroffenen Feststellungen ausdrücklich oder wenigstens unzweideutig denjenigen des Tatbestands widersprechen.[118]

 

Rz. 66

Nach der neueren Rechtsprechung des BGH kommt dem Tatbestand eines Urteils allerdings grundsätzlich keine negative Beweiskraft zu.[119] Die vollständige Wiedergabe des Parteivorbringens zählt nicht zu den Funktionen des Urteilstatbestands. Das Gesetz sieht in § 313 Abs. 2 ZPO nur eine "knappe" Darstellung des "wesentlichen Inhalts" der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel vor.[120] Die vorbereitenden Schriftsätze stehen zum Nachweis des Parteivorbringens zur Verfügung. Mit der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung ist im Zweifel eine Bezugnahme der Parteien auf den Inhalt der zur Vorbereitung vorgelegten Schriftstücke verbunden.[121] Der Prozessstoff ergibt sich damit auch aus dem Inhalt der Gerichtsakten. Die negative Beweiskraft bleibt aber für solche Angriffs- und Verteidigungsmittel von Bedeutung, die in der mündlichen Verhandlung ohne vorherige Ankündigung in einem vorbereitenden Schriftsatz vorgebracht werden und im Urteil unerwähnt bleiben.[122]

 

Rz. 67

Im Ergebnis gilt also Folgendes: Parteivorbringen, das sich aus den vorbereitenden Schriftsätzen ergibt, kann nicht allein deshalb im Rechtsmittelverfahren unberücksichtigt bleiben, weil es in dem Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils keine Erwähnung gefunden hat.[123] Gleichwohl muss der Prozessbevollmächtigte zur Meidung einer anwaltlichen Pflichtverletzung den Tatbestand sorgfältig auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit überprüfen. Eine etwaige Unrichtigkeit tatbestandlicher Darstellungen im Urteil muss im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden.[124] Der Prozessbevollmächtigte muss also den Tatbestand dahin prüfen, ob unstreitiger und streitiger Sachvortrag im Tatbestand richtig unterschieden werden, ob die im Tatbestand niedergelegten Tatsachen überhaupt vorgetragen wurden und ob Tatsachvortrag unrichtig bzw. fehlinterpretiert wiedergegeben wird. Bei entsprechenden Unzulänglichkeiten muss ein Berichtigungsantrag gestellt werden.[125]

[112] BGH NJW 1997, 1931; BGH WM 2000, 1871.
[113] BGH NZG 2015, 1432, 1436.
[114] BGH NJW-RR 2016, 210.
[115] BGH NZG 2015, 1432, 1436.
[116] BGH NZG 2015, 1432, 1436.
[117] BGH NZG 2015, 1432, 1436.
[119] BGH NJW 2004, 1876, 1879.
[120] BGH NJW 2004, 1876, 1879; Musielak/Voit/Ball, § 529 ZPO Rn 7; Gaier, NJW 2004, 110, 111; Rixecker, NJW 2004, 705, 708.
[122] BGH NJW 2004, 1876, 1879.
[123] BGH NJW-RR 2016, 210.
[124] BGH NJW 2011, 3294, 3295.
[125] Vgl. auch Musielak/Voit/Ball, § 529 ZPO Rn 6.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge