A. Einführung

 

Rz. 1

Im Insolvenzfall gilt das Arbeitsrecht zunächst ohne Einschränkung fort. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des KSchG, des BetrVG und des § 613a BGB. Ergänzend trifft die Insolvenzordnung einige Sonderregelungen das Arbeitsrecht betreffend, insbesondere in den §§ 113, 120 ff. InsO, die im Wesentlichen die Sanierung des angeschlagenen Unternehmens erleichtern sollen. Dies ist nur teilweise gelungen, wie noch aufzuzeigen sein wird. Im Arbeitsrecht war auf der anderen Seite der Schutz der Arbeitnehmer und die Kontinuität des Arbeitsverhältnisses sowie auch der Arbeitnehmervertretungen zu berücksichtigen. Ähnlich wie im allgemeinen Zivilrecht Arbeitnehmer nicht lediglich Dienstnehmer im schuldrechtlichen Sinne sind, nehmen sie auch im Insolvenzrecht – jedenfalls theoretisch – eine gewisse Sonderrolle neben den übrigen Gläubigern ein. So sollen sie beispielsweise im Insolvenzplanverfahren gem. § 222 Abs. 3 InsO eine besondere Gruppe bilden und dem Gläubigerausschuss soll gem. § 67 Abs. 2 InsO ein Vertreter der Arbeitnehmer angehören.

Die Insolvenzordnung hat sich insbesondere für eine Fortgeltung des § 613a BGB auch im Insolvenzverfahren entschieden, obwohl die europäische Richtlinie zu Betriebsübergängen[1] dem nationalen Gesetzgeber zugesteht, in Insolvenzverfahren hiervon eine Ausnahme zu machen. Gleichwohl hat sich der deutsche Gesetzgeber, anders als in anderen europäischen Ländern,[2] hierzu nicht durchringen können, mit dem Ergebnis, dass bei der übertragenden Sanierung stets besondere Lösungen gefunden werden müssen, wenn der Übergang aller Arbeitsverhältnisse aus wirtschaftlichen Gründen vermieden werden soll.

Ergänzend ist zu erwähnen, dass das Insolvenzarbeitsrecht europarechtlich durch die Richtlinien zum Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (RL 2008/94/EG),[3] der Richtlinie zu Massenentlassungen (RL 98/59/EG)[4] und der eben erwähnten Richtlinie zu Betriebsübergängen determiniert ist, die in den letzten Jahren zu Aussetzungen der Verfahren vor den deutschen Gerichten und zur Vorlage vor den EuGH mit anschließenden Leitentscheidungen des BAG geführt haben. Dies gilt insbesondere für von Insolvenzverwaltern betriebene Kündigungsschutzverfahren, von denen die "Air Berlin"-Entscheidungen[5] zur Frage des Betriebsbegriffs bei Massenentlassungen sicherlich die prominentesten sind.

[1] Richtlinie 2001/23/EG v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, dort Art. 5.
[2] Anders z.B. in den Niederlanden, wobei sich dann Anschlussfragen stellen, vgl. etwa EuGH v. 28.4.2022 – C-237/20 zum dortigen "Prepack-Verfahren".
[3] Richtlinie 2008/94/EG v. 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.
[4] Richtlinie 98/59/EG v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen.
[5] BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, wonach der unionskonforme Betriebsbegriff für die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit maßgeblich ist, mit zahlreichen Folgeentscheidungen, etwa jüngst BAG v. 11.5.2023 – 6 AZR 267/22.

I. Zielsetzung des Insolvenzverfahrens

 

Rz. 2

Neben der gleichmäßigen und bestmöglichen Gläubigerbefriedigung (§ 1 S. 1 Alt. 1 InsO) hat der Gesetzgeber in der InsO auch den Erhalt des Unternehmens als Ziel des Insolvenzverfahrens vorgesehen (vgl. § 1 S. 1 Alt. 2 InsO). Um dem Nachdruck zu verleihen, hält die InsO Werkzeuge und Regelungen bereit, die den Erhalt des Unternehmens unterstützen. So trifft den vorläufigen Verwalter eine Fortführungspflicht (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 und 3 InsO) und eine ganze Reihe an Verfahrensarten, wie das Insolvenzplanverfahren nach §§ 217 ff. InsO, die Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO und das Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO haben gerade den zumindest teilweisen Erhalt des Unternehmens zum Ziel.

 

Rz. 3

Bei allen Bemühungen um eine Fortführung des insolventen Unternehmens steht jedoch die Kostendeckung und somit der Personalabbau deutlich im Vordergrund. Dabei ist zu beachten, dass eine finanzielle Krise dem Unternehmer grundsätzlich kein Recht zur außerordentlichen Kündigung vermittelt. Das ist nichts Ungewöhnliches, bedenkt man, dass ein bloßer Liquiditätsengpass dem Unternehmer auch im Allgemeinen kein Sonderrecht zur Kündigung seiner Verträge einräumt.

 

Rz. 4

Durch den Eröffnungsbeschluss werden sämtliche vertraglichen Schuldverhältnisse – mit Ausnahme der Arbeitsverträge – ohne weiteres suspendiert.[6] Der Schuldner hat gegen die aus ihnen resultierenden Erfüllungsansprüche eine dauerhafte Einrede – die Ansprüche sind nicht mehr durchsetzbar. Bei beidseits unerfüllten Verträgen kann gem. § 103 InsO allein der Insolvenzverwalter wählen, ob er den Vertrag erfüllen will oder nicht. Arbeitsverträge, die nicht zuvor bereits wirksam gekündigt waren, bleiben demgegenüber grundsätzlich über den Eröffnungszeitpunkt hinaus erhalten, vgl. § 108 Abs. 1 S. 1 InsO. Sie sind insoweit also p...

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