Rz. 88

Da das Kündigungsschutzgesetz auch im Übrigen im eröffneten Insolvenzverfahren Anwendung findet, bedarf es wohl keiner besonderen Erwähnung, dass auch die Regelung des § 17 KSchG zur Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Agentur für Arbeit vollumfänglich Anwendung findet.[83] Der Insolvenzverwalter – oder die Eigenverwaltung – hat daher vor Ausspruch der beabsichtigen Kündigungen nach den dortigen Regelungen zu prüfen, ob er durch die Zahl der beabsichtigten Kündigungen anzeigepflichtig wird, was bei Betriebsstilllegungen jedenfalls dann der Fall sein wird, wenn der Betrieb, in dem die Entlassungen erfolgen sollen, den Schwellenwert von in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmern überschreitet, vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG.

Mittlerweile wird in nahezu jedem Kündigungsschutzprozess arbeitnehmerseitig die Einhaltung der arbeitgeberseitigen Pflichten aus § 17 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG gerügt. Wurde diesbezüglch ein Fehler festgestellt, führte dies bislang in fast allen Fällen zur Unwirksamkeit der Kündigung, da von der Rechtsprechung ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB angenommen wurde. Diese strikte Sanktion gerät nunmehr ins Wanken: Zwar hat der EuGH auf Vorlage des BAG in seinem Urteil vom 13.7.2023 entschieden, dass zumindest die Übersendung einer Abschrift der Betriebsratsunterrichtung an die Bundesagentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keinen Individualschutz entfaltet und deren Unterlassung daher die Wirksamkeit der einzelnen Kündigung unberührt lassen soll.[84] Der Sechste Senat des BAG hat daraufhin bekanntgegeben, von seiner bisherigen Rechtsprechung abrücken zu wollen, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder lediglich eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG vorliegt.[85] Da hierin eine Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats liegt, hat der Sechste Senat zum Redaktionsschluss der vorliegenden Auflage drei diesbezüglich anhängige Verfahren ausgesetzt und angefragt, ob der Zweite Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten wolle.[86]

Es bleibt abzuwarten ob infolge der Entscheidung des EuGH letztlich – wie vom Sechsten Senat angedeutet – das grundsätzliche Sanktionssystem in Deutschland auf den Prüfstand kommt, wonach jegliche Fehler bei der Massenentlassungsanzeige bislang zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Solange hier keine endgültige Klärung erfolgt ist, sollte der Insolvenzverwalter peinlich genau darauf achten, dass die Anzeige in der richtigen Form, rechtzeitig und bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht wird. Ist ein Betriebsrat vorhanden, ist dieser zuvor nach § 17 Abs. 2 KSchG zu konsultieren.

[83] Das Massenentlassungsverfahren und insbesondere der Betriebsbegriff sind stark unionsrechtlich determiniert, vgl. die einschlägige Richtlinie RL 98/59/EG, vgl. auch die Darstellung bei MüKo-BGB/Hergenröder, § 17 KSchG Rn 2 ff. Unsicherheiten in der Übereinstimmung der nationalen Vorschriften mit dem Unionsrecht haben in den letzten Jahren zu einer wechselhaften Kasuistik geführt, die es dem Praktiker erschweren, ein rechtssicheres Massenentlassungsverfahren durchzuführen. Hier sei ergänzend auch auf die Merkblätter der Agentur für Arbeit verwiesen.
[85] Pressemitteilung des BAG v. 14.12.2023, https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/massenentlassung-sanktion-fuer-fehler-im-anzeigeverfahren-aenderung-der-rechtsprechung-mitteilung-zu-den-verfahren-6-azr-157–22-b-6-azr-155–21-b-und-6-azr-121–22-b/; zuletzt aufgerufen am 19.12.2023.

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