Rz. 22

Gegen den Willen eines Elternteils kommt die Übertragung der alleinigen Sorge auf den anderen Elternteil nach § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB nur in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entsprechen.[24]

 

Rz. 23

Nach Neuregelung des § 1671 BGB im Rahmen des zum 1.7.1998 in Kraft getretenen Kindschaftsrechtsreformgesetzes war zunächst der Schluss gezogen worden, es handle sich bei der gemeinsamen Sorge um die gesetzliche Regel.[25] Die Alleinsorge sei die Ausnahme, die noch dazu als begründungsbedürftiger Eingriff in das Sorgerecht konstruiert sei.[26] Der BGH hat jedoch bereits 1999 klargestellt,[27] dass die Neuregelung kein Regel-Ausnahme-Verhältnis darstellt dahingehend, dass ein Vorrang der gemeinsamen elterlichen Sorge bestehe und die Alleinsorge eines Elternteils nur in Ausnahmefällen als Ultima ratio in Betracht komme.[28] Ebenso wenig bestehe eine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei. Funktioniere die gemeinsame elterliche Sorge nicht und seien die Eltern nicht zu gemeinsamen Entscheidungen im Interesse des Kindes fähig, müsse der Alleinsorge der Vorzug gegeben werden.[29]

Das BVerfG hat dazu in einem Beschluss vom 4.8.2015 erklärt, dass die Verfassung nicht gebietet, die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall zu behandeln, wenn es an "einer tragfähigen sozialen Beziehung zwischen den Eltern und einem Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen fehlt".[30] Andererseits, so das BVerfG, setzt die Übertragung der alleinigen Sorge auf den anderen Elternteil nicht voraus, dass eine Kindeswohlgefährdung besteht, wie sie nach ständiger Rechtsprechung bei einer Trennung des Kindes von seinen Eltern nach Art. 6 Abs. 3 GG vorliegen müsste.[31]

[24] VerfGH Sachsen v. 22.1.2015 – Vf. 106-IV-14, FamRZ 2015, 1726; OLG Frankfurt v. 26.3.2018 – 1 UF 4/18, FamRZ 2018, 926; OLG Saarbrücken v. 13.5.2015 – 6 UF 18/15, FamRZ 2015, 2180; OLG Köln FamRZ 2013, 47.
[25] Ähnlich OLG Saarbrücken v. 29.4.2016 – 6 UF 22/16 zu § 1626a: Leitbild des Gesetzgebers.
[26] So Schwab, FamRZ 1998, 457, 462.
[28] Gleichwohl hat der BGH bei Uneinigkeit der Eltern über die religiöse Erziehung (Vater: dem Islam zugehörig, Mutter: katholisch) und "tiefer Zerstrittenheit" das gemeinsame Sorgerecht nicht aufgehoben, sondern es bei einer Teilübertragung des Sorgerechts belassen, BGH FamRZ 2005, 1167; krit. dazu Weychardt, FamRZ 2005, 1534: bei extremer Kulturverschiedenheit (ist) ein gemeinsames Sorgerecht sinnlos; vgl. dazu auch OLG Frankfurt FamRZ 1994, 920; die Zugehörigkeit der Mutter zu den Zeugen Jehovas rechtfertigt nach Auffassung des AG Helmstedt allerdings nicht die Sorgerechtsübertragung auf den Vater, vgl. AG Helmstedt FamRZ 2008, 632 m. Anm. Weychardt.
[30] BVerfG v. 4.8.2015 – 1 BvR 1388/15; VerfGH Sachsen v. 22.1.2015 – Vf. 106-IV-14, FamRZ 2015, 1726.
[31] BVerfG v. 4.8.2015 – 1 BvR 1388/15; vgl. dazu auch VerfGH Sachsen v. 22.1.2015 – Vf. 106-IV-14, FamRZ 2015, 1726; OLG Saarbrücken v. 13.5.2015 – 6 UF 18/15, FamRZ 2015, 2180.

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