Entscheidungsstichwort (Thema)

Bei bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge besteht kein Leitbild dahin, dass deren Fortbestand gegenüber der Alleinsorge im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorzugswürdig ist

 

Leitsatz (amtlich)

Auch nach Erlass des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern von 16.4.2013 besteht bei bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge kein Leitbild dahin, dass deren Fortbestand gegenüber der Alleinsorge im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorzugswürdig ist.

Entscheidungsmaßstab ist allein das Kindeswohl; es ist nicht erforderlich, dass das Kind bei bestehender schwerwiegender und nachhaltiger Störung der Kommunikation der Eltern und nicht möglicher gemeinsamer Entscheidungsfindung erheblich belastet würde, wenn seine Eltern gezwungen würden, die elterliche Sorge gemeinsam auszuüben.

 

Normenkette

BGB § 1671 Abs. 1

 

Verfahrensgang

AG Peine (Beschluss vom 08.01.2015; Aktenzeichen 10 F 398/14)

 

Tenor

I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - Peine - vom 8.1.2015 - 10 F 398/14 - wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

III. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern von J. H., geboren am ... 2000. Aus ihrer Ehe ist ebenfalls die am ... 1990 geborene F. H. hervorgegangen. Die Kindeseltern trennten sich im Jahr 2007. Ihre Ehe ist seit dem 21.1.2009 rechtskräftig geschieden. J. lebte seitdem bei der Kindesmutter. Lediglich in einem kurzen Zeitraum im Jahr 2014 hielt sie sich beim Kindesvater auf.

Aufgrund von Drogen- und Alkoholproblemen hielt sich J. im Sommer/Herbst 2014 für ca. 11 Wochen in psychiatrischen Krankenhäusern auf. Anschließend schaffte sie es, sich in ihre bisherige Klasse wieder zu integrieren und konnte ihre schulischen Leistungen verbessern.

Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin beantragt, ihr die alleinige elterliche Sorge zu übertragen. Sie begründet dies mit der fehlenden Kommunikation mit dem Kindesvater, seiner mangelnden Absprachefähigkeit und der akut schwierigen Phase für J.

Der Kindesvater tritt dem entgegen. Es habe in der Vergangenheit keine Schwierigkeiten mit Unterschriften seinerseits gegeben, wobei die Kindesmutter sämtliche Entscheidungen allein getroffen und ihn lediglich hinterher informiert habe. Das AG hat den Bericht des Verfahrensbeistands eingeholt, J. und die Kindeseltern persönlich angehört.

In dem angefochtenen Beschluss hat das AG der Antragstellerin die alleinige elterliche Sorge übertragen. Mit seiner Beschwerde möchte der Antragsgegner den Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge erreichen.

II. Die Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

Das AG hat die gemeinsame elterliche Sorge zu Recht aufgehoben und der Kindesmutter übertragen. Nach § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB ist einem Elternteil die elterliche Sorge zu übertragen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

Damit ist eine doppelte Kindeswohlprüfung erforderlich: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht und im zweiten Schritt, ob die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil ebenfalls dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob dem Gesetz ein Leitbild gemeinsamer elterlicher Sorge zu entnehmen ist (OLG Celle [10. Senat] FamRZ 2014, 857, 857 f.; NZFam 2014, 738, 739; OLG Stuttgart [16. Senat] FamRZ 2014, 1715, 1715 f.) oder ob sich aus dem Gesetz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis herleiten lässt (BVerfG FamRZ 2007, 1876 Rz. 13 f.; BGH FamRZ 2008, 592; 2005, 1167; 1999, 1646, 1647; OLG Stuttgart [11. Senat] FamRZ 2015, 674; Staudinger/Coester, BGB, Neubearbeitung 2009, § 1671 Rz. 110-118; Hennemann in MünchKomm/BGB, 6. Aufl. 2012, § 1671 Rz. 11; Veit in Bamberger/Roth, Beck'scher Online Kommentar BGB, Edition 35, Stand: 1.5.2015, § 1671 Rz. 6 m.w.N.).

Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Hinsichtlich des hier einschlägigen § 1671 Abs. 1 BGB enthält die Gesetzesbegründung zum "Entwurf eines Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern" lediglich den Hinweis, dass dieser "sprachlich überarbeitet, inhaltlich aber unverändert" ist (BT-Drucks. 17/11048, 19). Bei der Neufassung von § 1671 BGB im Rahmen des Kindschaftsrechtsreformgesetzes im Jahr 1998 führte die Gesetzesbegründung aus, es dürfe nicht der Schluss gezogen werden, "dass der gemeinsamen Sorge künftig ein Vorrang vor der Alleinsorge eines Elternteils eingeräumt werden soll. Es soll auch keine gesetzliche Vermutung bestehen, wonach die gemeinsame Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei." (BT-Drucks. 13/4899, 63, 99). Bei Zusamme...

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