Rz. 73

Liegen die Voraussetzungen für die Leistungspflicht vor, lässt der Versicherer in der Regel ein Gutachten zum Grad der Invalidität erstellen. Spätestens mit dessen Zugang beginnt oftmals erst richtig die Auseinandersetzung mit dem Versicherer. Dabei geraten die medizinischen Gutachter ins Kreuzfeuer der Kritik, denn ihre Einschätzung des Invaliditätsgrades hängt maßgeblich von der richtigen Fragestellung ab. Ein Blick in die einschlägigen AUB macht es deutlich.

 

Rz. 74

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, richtet sich die Invalidität nach der Gliedertaxe, die dort angegebenen Werte unumstößlich sind. Kommen Gutachter aufgrund eines Verlustes des Arms, der nach der Gliedertaxe mit 70 % bewertet wird, zu der Annahme, die besonderen Umstände des Einzelfalls gebieten eine Überschreitung oder Unterschreitung des Wertes, so ist dies falsch.

 

Rz. 75

Ist ein Verlust des Gliedes nicht zu beklagen, muss die Funktionsbeeinträchtigung ermittelt werden. Dabei ist ein Augenmerk auf die Formulierung der Gliedertaxe zu werfen. Geht diese beispielhaft von "Arm im Schultergelenk = 70 %" aus und liegt eine vollständige Versteifung vor, kommt es auf eine Beweglichkeit des Unterarms und der Hand nicht an, da die Versteifung zu einem Funktionsverlust des "Arms im Schultergelenk" geführt hat. Der Invaliditätsgrad beträgt 70 %, vgl. hierzu zuletzt BGH VersR 2014, 365. Interessant ist diese Entscheidung des BGH auch, weil der Gutachter für die Bemessung des Invaliditätsgrades auf medizinische Fachliteratur (dort Rompe/Erlenkämper, Begutachtung von Haltungs- und Bewegungsorganen, 3. Auflage) zurückgriff, die bei Versteifung des Schultergelenks eine Invalidität von 4/10 bis ½ Armwert vorgab. Diese medizinische Einschätzung deckte sich aber nicht mit den einschlägigen AUB. Während in Rompe/Erlenkämper in diesem Fall bei der Invaliditätsbemessung noch das Restleistungsvermögen des Arms berücksichtigt wurde, musste dies im Fall des BGH gerade nicht beachtet werden. Ob die Entscheidung des Gutachters bei der Geltung der AUB 2008 oder AUB 2010 richtig wäre, kann hier offen bleiben.

 

Rz. 76

Ein für den Richter, die Prozessparteien und ihre Bevollmächtigten gutes und nachvollziehbares Gutachten sollte dabei neben den Verletzungen auch den Heilungsverlauf und den Dauerschaden benennen. Da die Bedingungen bei Anwendung der Gliedertaxe auf die Funktionsbeeinträchtigung abstellen, hat der Gutachter auch grundsätzlich die Funktion des betroffenen Gliedes, also das Leistungsvermögen, unmittelbar vor dem Unfall aufzeigen. Vorschäden werden dabei ausdrücklich zu benennen sein. Anschließend hat der Gutachter gleichsam einer Schablone die dauerhaften Verletzungsfolgen über diese grundsätzliche Funktion zu legen und zu erklären, inwieweit diese Verletzungen die Funktion beeinträchtigen. Sodann ist diese Beeinträchtigung (Delta zwischen dem Funktionsumfang vor und nach dem Unfall) wertmäßig zu nennen und zu begründen.

 

Rz. 77

Häufig erklären sich Gutachten nicht zur Funktion des betroffenen Gliedes. So werden beispielhaft bei Beinverletzungen Beugung und Streckung nach der Neutral-Null-Methode ermittelt und die beschwerdefrei zu bewältigenden Wegstrecken – mit und ohne Hilfsmittel – genannt. Anschließend kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass eine Invalidität von 3/10 Beinwert besteht. Für den Leser häufig nicht nachvollziehbar, hätte der Wert genauso gut bei 5/10 oder 2/10 liegen können. Hintergrund ist, dass sich der Gutachter nur zum aktuellen Leistungsvermögen erklärt, nicht aber zum Leistungsvermögen vor dem Unfall. Dieses Delta und die damit einhergehende unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigung sind aber für ein fehlerfreies und nachvollziehbares Gutachten entscheidend.

 

Rz. 78

Weiterhin muss der Sachverständige auch die absehbaren Folgen aus den feststehenden Verletzungsfolgen erklären und diese in die Bewertung mit einfließen lassen. Bemisst der Gutachter den Invaliditätsgrad ausschließlich anhand der Anknüpfungstatsachen, wie sie sich am Untersuchungstag zeigen und "friert den Gesundheitszustand ein", ist dies fehlerhaft. Drohende Amputationen, Gelenkversteifungen, oder die Gefahr eines künstlichen Gelenkes haben Einfluss auf den Invaliditätsgrad.

 

Rz. 79

Bliebe noch die Frage zu beantworten, wie denn die Funktion und damit das Leistungsvermögen vor dem Unfall aussah. Antworten werden sich regelmäßig in den Arztberichten finden. Sind dort Vorerkrankungen nicht erwähnt, wird vom normalen altersgerechten Zustand mit entsprechendem Leistungsvermögen auszugehen sein. Da die Bedingungen regelmäßig Anrechnungsvorschriften beinhalten und damit die Leistung kürzen, sind sie gleichsam einer Einwendung vom Versicherer darzulegen und ggf. zu beweisen.

 

Praxistipp

Der das Unfallversicherungsrecht bearbeitende Anwalt sollte grundsätzlich mit spezialisierten Ärzten, insbesondere mit Orthopäden zusammenarbeiten, da überwiegend der Invaliditätsgrad auf diesem Gebiet bestimmt wird.

 

Praxistipp

Kommt der Mandant mit einem vom Versicherer unterbreiteten Regulierung...

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