Rz. 55

§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG bestimmt lediglich, dass der Betriebsrat "vor" jeder Kündigung zu hören ist. Eine konkrete Frist wird vom Gesetzgeber nicht festgelegt. Diese ergibt sich aber mittelbar bezogen auf den vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigungszeitpunkt daraus, dass der Betriebsrat gem. § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG Bedenken gegen eine ordentliche Kündigung spätestens innerhalb einer Woche schriftlich mitzuteilen hat. Nach § 102 Abs. 2 S. 3 BetrVG hat der Betriebsrat Bedenken, die gegenüber einer außerordentlichen Kündigung bestehen, unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Tagen schriftlich mitzuteilen. Da die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB durch die Äußerungsfrist nach § 102 Abs. 2 S. 3 BetrVG nicht verlängert wird, muss die Mitteilung an den Betriebsrat innerhalb der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB so rechtzeitig erfolgen, dass die Anhörungsfrist (längstens drei Tage) gewahrt ist. Das Anhörungsverfahren muss also abgeschlossen sein, bevor die Kündigungserklärung den Machtbereich des Arbeitgebers endgültig[71] verlassen hat.

 

Rz. 56

Entsprechendes gilt auch, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die Zustimmung einer staatlichen Behörde einholen muss. Dies gilt etwa bei einer Arbeitnehmerin, die unter das MuSchG fällt, und bei der Kündigung eines Menschen mit Behinderung gem. §§ 168 ff. Abs. 1 SGB IX. Hierbei besteht zunächst Einvernehmen, dass das Anhörungsverfahren sowohl vor dem Antrag auf Erteilung der Zustimmung als auch noch während des Verwaltungsverfahrens oder nach dessen Ende eingeleitet werden kann.[72] Auch bei einer außerordentlichen Kündigung kann der Arbeitnehmer das Anhörungsverfahren erst nach Erteilung der Zustimmung bzw. nach Eintritt der Zustimmungsfiktion gem. § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX einleiten. Entscheidet sich der Arbeitgeber hierzu, dann muss er unverzüglich nach Vorliegen der Zustimmung – sei es durch zustimmenden Bescheid, sei es durch Eintritt der Zustimmungsfiktion gem. § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX – das Anhörungsverfahren mit dem Betriebsrat durchführen und im Anschluss hieran wiederum unverzüglich die außerordentliche Kündigung aussprechen.[73] Für die entsprechenden zeitlichen Zusammenhänge und die zeitnahe Umsetzung ist der Arbeitgeber im Prozess ggf. darlegungs- und beweisbelastet, sodass entsprechende Dokumentationen geboten sind.

[72] BAG v. 13.12.2018 – 2 AZR 378/18, NZA 2019, 305; BAG v. 1.4.1981, AP Nr. 23 zu § 102 BetrVG 1972; vgl. BAG v. 23.10.2008, DB 2009, 1248; zu Folgeproblemen der Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern: Bauer/Powietzka, NZA-RR 2004, 505; vgl. auch BAG v. 1.2.2007, NZA 2007, 744; BAG v. 24.11.2011, NZA 2012, 610.

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