Rz. 62

Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung besteht, wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehungsleistung durch die Personensorgeberechtigten nicht gewährleistet wird und gerade[211] die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Mängel im schulischen oder sozialen Umfeld werden von § 27 SGB VIII nicht erfasst.[212] Obwohl der Begriff des Kindeswohls an die familienrechtlichen Definitionen anknüpft, gilt für § 27 SGB VIII nicht die hohe Eingriffsschwelle des § 1666 BGB,[213] da durch die präventive Wirkung dieser Hilfe gerade der Gefährdung im Sinn des § 1666 BGB vorgebeugt werden soll. Dabei folgt aus der dem Kindeswohl nicht entsprechenden Erziehung der für die Hilfe zur Erziehung notwendige erzieherische Bedarf. Bei der näheren Bestimmung, ob eine Erziehung dem Wohl des Kindes gerecht wird, geht die Rechtsprechung von einer sog. quantitativen Betrachtung aus.[214] Entscheidend ist danach, ob bei dem unmittelbar betroffenen Kind Bedingungen nicht gegeben sind, wie sie für einen wesentlichen Teil anderer Kinder und Jugendlicher existieren.

 

Rz. 63

Allein der danach bestehende erzieherische Bedarf genügt jedoch nicht, um den Leistungsanspruch zu begründen. Erforderlich ist zudem, dass die in Rede stehende Hilfe geeignet und auch notwendig ist, um den Bedarf abzudecken. Geeignet ist eine sozialpädagogische Hilfe, wenn sie voraussichtlich das bestehende Erziehungsdefizit vollständig beseitigen oder zumindest positiv beeinflussen kann. Hiervon kann nicht ausgegangen werden, wenn auf Seiten der Personensorgeberechtigten keine Mitwirkungsbereitschaft besteht.[215] Notwendig ist die Hilfe, wenn das bestehende Defizit nicht durch niederschwelligere Maßnahmen beeinflusst werden kann, auch wenn diese gegebenenfalls kostengünstiger wären.

 

Rz. 64

§ 27 Abs. 2a SGB VIII sieht eine Regelung für den Fall vor, dass sich der Minderjährige im Haushalt einer anderen unterhaltspflichtigen Person aufhält. Hiervon betroffen sind primär Großeltern bzw. Urgroßeltern des Kindes, nicht jedoch jene Fälle, in denen ein nichtsorgeberechtigter Elternteil das Kind bei sich aufnimmt.[216] Kann im Haushalt der (Ur)Großeltern der Erziehungsbedarf des Minderjährigen sichergestellt werden, so bleibt das Recht des Personensorgeberechtigten unberührt, Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege geltend zu machen. Dass die tatsächlich betreuenden (Ur)Großeltern gegenüber dem Minderjährigen unterhaltspflichtig sind, erlangt in der Form Bedeutung, als das Jugendamt gem. § 39 Abs. 4 S. 4 SGB VIII das Pflegegeld hinsichtlich des die Sachaufwendungen umfassenden Teils kürzen kann. Großeltern können gegenüber dem Träger der Jugendhilfe einen Anspruch auf Übernahme der Aufwendungen für die Vollzeitpflege von Enkelkindern (§ 27 Abs. 1, § 33 Abs. 1 SGB VIII) haben; dies gilt auch dann, wenn sie das Jugendamt nicht ernsthaft vor die Alternative stellen, für ihre Entlohnung zu sorgen oder auf ihre Betreuungsdienste zu verzichten.[217] Steht eine Vollzeitpflege für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei Verwandten in Rede, so stellen sich besondere jugendhilfe- und aufenthaltsrechtliche Fragen.[218]

 

Rz. 65

Einer uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt lediglich die Frage, ob seitens des Jugendamts die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 27 SGB VIII zutreffend bejaht wurden. Ob im Übrigen eine Hilfe geeignet und notwendig ist, wurde bislang als lediglich eingeschränkt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüfbar angesehen,[219] ebenso die Entscheidung des Jugendhilfeträgers bezüglich der jeweils gewählten Hilfe.[220] Vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung[221] hat diese Diskussion eine neue Grundlage erlangt, da gerade in Fällen der Rückführung eines Kindes in den elterlichen Haushalt oder der Vermeidung einer solchen Fremdplatzierung gesteigerte Hilfeansprüche nach §§ 27 ff. SGB VIII bestehen, die im Verwaltungsrechtsweg durchzusetzen sind (Antragsmuster hierzu vgl. § 13 Rdn 70), sollte eine entsprechende Hilfeleistung behördlicherseits verweigert werden (vgl. hierzu auch Rdn 32).[222]

[211] Kunkel, ZfJ 1998, 205; Lakies, ZfJ 1996, 451.
[212] Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, § 27 Rn 3 f.
[213] BT-Drucks 11/5948, S. 68.
[214] BVerwG FamRZ 1993, 955.
[215] Weitere Beispiele für eine mangelnde Eignung vgl. in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, § 27 Rn 8 f.
[216] Wiesner, SGB VIII, § 27 Rn 26 b.
[217] BVerwG FamRZ 2015, 659.
[218] Siehe dazu eingehend DIJuf-Rechtsgutachten JAmt 2016,251 und 253.
[219] BVerwG FamRZ 2000, 286; BayVGH JAmt 2004, 545.
[220] Ollmann, ZfJ 1995, 45; Hinrichs, JAmt 2006, 377.
[221] BVerfG FamRZ 2014, 1266.
[222] Vgl. hierzu auch Schmidt, Anordnung von SGB VIII-Leistungen: Verpflichtung des Jugendamts durch das Familiengericht?, FamRZ 2015, 1158.

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