Rz. 593

Der Beweisantritt durch Augenschein erfolgt nach § 371 ZPO durch die Bezeichnung des Gegenstandes des Augenscheins und durch die Angabe der zu beweisenden Tatsache.

 

Rz. 594

Diese Bestimmung in § 371 Abs. 1 S. 1 ZPO ist dahin gehend zu verstehen, dass auch der Umstand, der Zustand oder die Eigenschaft zu beschreiben sind, die Gegenstand des Augenscheins sein sollen.

 

Rz. 595

 

Beispiel

Der Kläger behauptet, dass von einem Speditionsunternehmen jeweils in der Zeit zwischen 02:00 Uhr und 03:00 Uhr erhebliche Geräuschbelästigungen ausgehen. Diese seien jeweils nur kurzfristig und in der Art von Geräuschspitzen, die sich dadurch ergeben, dass die Fahrer die Fahrzeuge starten, warm laufen lassen und die Türen lautstark schließen.

Hinsichtlich der Feststellung, dass die vorgegebenen Immissionswerte überschritten werden, kann ein immissionstechnisches Sachverständigengutachten eingeholt werden. Darüber hinaus verlangt die Rechtsprechung aber die subjektive Feststellung des Gerichts, dass diese Geräusche auch störend sind. Insoweit kann beantragt werden, dass das Gericht sich durch "Augenschein" an Ort und Stelle, d.h. am Wohnort des Klägers davon überzeugt, dass die durch das Speditionsunternehmen verursachten Lärmspitzen erheblich und störend sind.

 

Rz. 596

Schon das vorstehende Beispiel mit seinem Aufwand macht deutlich, dass die Gerichte in der Praxis die Augenscheinnahme an Ort und Stelle gerne vermeiden. Zu den besonderen Schwierigkeiten der Augenscheinnahme kommt hinzu, dass diese Form der Beweisaufnahme aufgrund der Notwendigkeit der An- und Abreise und des erheblichen Organisationsaufwandes zu vermeiden gesucht wird. Dem entgegen lösen sich viele Streitfragen vor Ort tatsächlich auf, weil die örtlichen Verhältnisse eine der beiden vorgetragenen Auffassungen erkennbar stützt. Vor Ort lassen sich häufig auch für die Parteien sachgerechte praktische Lösungen finden, die den Prozess im Vergleichswege beenden.

 

Rz. 597

 

Tipp

Soweit der Antrag auf Augenscheinnahme mit dem Argument zurückgewiesen wird, dass es sich um ein ungeeignetes Beweismittel handele oder aber der Beweisantrag nicht hinreichend substantiiert sei, sollte ausdrücklich darum gebeten werden, dass das Gericht nach § 139 ZPO darauf hinweist, aus welchen Gründen es das Beweismittel für ungeeignet hält oder welche Anforderungen es an die Darlegung des in Augenschein zu nehmenden Gegenstandes und der zu beweisenden Tatsache stellt. In diesem Fall kann entsprechend ergänzend vorgetragen werden.

 

Rz. 598

 

Tipp

Lässt sich gegenüber dem erkennenden Gericht der Antrag auf Augenscheinnahme nicht durchsetzen, so sollte der Bevollmächtigte versuchen, möglichst vollständig Foto-, Video- oder Audiodokumentationen des Augenscheinobjektes vorzulegen, sofern es sich hierbei um körperlich oder sinnlich wahrnehmbare Aspekte handelt, die mit diesen Medien dokumentiert werden können.

 

Rz. 599

Soll ein Gegenstand in Augenschein genommen werden und befindet sich dieser nach der Behauptung der beweisbelasteten Partei nicht in deren Besitz, kann der Beweis auch durch den Antrag angetreten werden, der beweisbelasteten Partei eine Frist zur Herbeischaffung des Gegenstandes zu setzen oder aber eine Anordnung nach § 144 ZPO zu erlassen.

 

Rz. 600

Wird der beweisbelasteten Partei eine Frist zur Herbeischaffung des Gegenstandes gesetzt, so muss diese aufgrund eines materiell-rechtlichen Anspruchs gegen den Beweisgegner oder einen Dritten vorgehen und die Vorlegung oder die Herausgabe des Augenscheinobjektes verlangen.

 

Rz. 601

Die so titulierte Vorlegung zu der Herausgabeverpflichtung ist dann gegebenenfalls im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen, sodass der in Augenschein zu nehmende Gegenstand dem Prozessgericht vorgelegt werden kann.

 

Rz. 602

Für die Praxis relevant wird die Möglichkeit sein, nach § 371 Abs. 2 ZPO zu beantragen, eine Anordnung nach § 144 ZPO entweder gegenüber dem Gegner der beweisbelasteten Partei[363] oder einem Dritten[364] zu erlassen, in deren Besitz sich das Augenscheinobjekt befindet. In gleicher Weise kann das Gericht von Amts wegen die Inaugenscheinnahme nach § 144 ZPO unmittelbar anordnen.

 

Rz. 603

Die im Rahmen des Urkundenbeweises[365] bereits erläuterten §§ 422432 ZPO finden nach § 371 Abs. 2 S. 2 ZPO entsprechende Anwendung.

 

Rz. 604

Vereitelt eine Partei die ihr zumutbare Augenscheinnahme, können nach § 371 Abs. 3 ZPO die Behauptungen über den Augenscheingegenstand durch den Beweisführer als bewiesen angesehen werden.

 

Rz. 605

Der Dritte darf die Vorlage des in Augenschein zu nehmenden Gegenstandes nur verweigern, wenn ihm die Vorlage unzumutbar ist oder aber er zur Zeugnisverweigerung gem. §§ 383385 ZPO berechtigt ist.

 

Rz. 606

Über die Berechtigung zur Verweigerung der Herausgabe des Augenscheinobjektes entscheidet das Prozessgericht nach § 144 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 387 ZPO durch Zwischenurteil auf Antrag,[366] gegen das nach § 144 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 387 ZPO sowohl dem Dritten als auch der Prozesspartei die sofortige Beschwerde[367] zusteht.

 

Rz. 607

Verwe...

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