Rz. 101

Sofern vor Beginn der Messung eingestellt wird, dass alle Fahrzeuge ab einer bestimmten Geschwindigkeit erfasst werden, handelt es sich um ein verdachtsabhängiges Messverfahren. Der Anfangsverdacht entsteht, sobald das Messgerät die konkrete Überschreitung registriert.[9] Bedenken wegen des Rechts des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung verfangen nicht, denn der Eingriff ist dann verfassungsmäßig gedeckt, § 100h Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.[10]

 

Rz. 102

Beim ESO 3.0 handelt es sich grundsätzlich um ein standardisiertes Messverfahren.[11] Zu einer eingehenden Prüfung der Messung ist das Gericht daher erst angehalten, sofern die Verteidigung konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlmessung aufzeigt.[12] Die Obergerichte sehen in der Zulassung der PTB ein Behördengutachten (antizipiertes Sachverständigengutachten), wodurch ein standardisiertes Messverfahren grundsätzlich vorliegt.[13] Die Stellungnahmen sind von der PTB im Internet veröffentlicht und im Freibeweisverfahren zu verwerten.[14]

Nun fand im Rahmen des Zulassungsverfahrens gerade keine Auswertung der Rohmessdaten statt, wie es in einer dienstlichen Erklärung der PTB vom 19.3.2014 heißt. In einer zweiten dienstlichen Stellungnahme führte die PTB jedoch aus, dass dies nicht erforderlich sei. Denn der Hersteller verwende dieselbe Software-Bibliothek und damit denselben Auswertealgorithmus, der auch im Messgerät implementiert ist. Diese wiederum sei im Rahmen des Bauartzulassungsverfahrens in detaillierten Untersuchungen verifiziert worden. Zudem ließen sich mögliche Zweifel an der Echtheit der Rohmessdaten (Integrität und Authentizität) auch im Nachhinein mithilfe eines Referenz-Auswerteprogramms ausräumen, welches wiederum ein Bestandteil der Zulassung sei. Daher soll es sich trotz der fehlenden Einsicht (der Gerichte) in die Rohmessdaten um ein standardisiertes Messverfahren handeln.[15]

 

Rz. 103

Mehrere Amtsgerichte kamen zu dem Schluss, dass eine (verhältnismäßige) richterliche Überprüfungsmöglichkeit damit an ihre Grenzen stoße und die Richtigkeit der Messung somit nicht aufklärbar sei.[16] Nach Ansicht der Obergerichte ist die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens jedoch erst dann zu veranlassen, wenn Anhaltspunkte für strukturell angelegte Fehler bestehen. Bis dahin ist nach wie vor von einem standardisierten Messverfahren auszugehen.[17]

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 wurde dies zuletzt bestätigt: Wird das Messgerät nach den Zulassungsbedingungen der PTB verwendet, ist das Tatgericht von weiteren technischen Prüfungen, insbesondere hinsichtlich der Funktionsweise, freigestellt.[18] Nachdem beim Einheitensensor ESO 3.0 die Zulassungsbedingungen vorliegen, ist eine weitergehende eigenständige Prüfung der Messung also nicht zu veranlassen.

Hingegen hat das Bundesverfassungsgericht in derselben Entscheidung klargestellt, dass die Informationsrechte der Verteidigung weiter gehen und von der Frage der richterlichen Prüfpflicht zu unterscheiden sind. Die Bauartzulassung allein ist kein endgültiger und unantastbarerer Garant für die Richtigkeit der Messung. Es besteht nämlich kein Erfahrungssatz, dass die vorliegend behandelten standardisierten Messgeräte unter allen Umständen zuverlässige Messergebnisse liefern.[19] Gleichwohl darf die eingangs dargelegte Funktionstüchtigkeit der Justiz, im konkreten Fall also das jeweilige Gerichtsverfahren, durch ausufernde Beweisanträge nicht unterminiert werden. Das Informationsrecht der Verteidigung ist daher eingeschränkt:

Die begehrten Informationen müssen hinreichend konkret benannt werden.
Sie müssen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zum konkreten Tatvorwurf stehen.
Die Relevanz der Informationen für die Verteidigung muss erkennbar sein.
Die Anträge der Verteidigung müssen ausreichend frühzeitig vor der Hauptverhandlung erfolgen.
 

Rz. 104

Nach diesen Kriterien ist die Verteidigung auszurichten. Für eine vollumfängliche Überprüfung der Messung auf mögliche Messfehler bedarf es einer unabhängigen Auswertung der Rohmessdaten.[20]

 

Praxistipp

Zur Herausgabe der unverschlüsselten Rohmessdaten ist zunächst die Bußgeldbehörde als Besitzerin der Messdaten aufzufordern. Weigert sie sich generell, ist ein Beschluss gem. § 62 OWiG herbeizuführen. Beruft sie sich darauf, dass sie diese unverschlüsselten Daten selbst nicht besitzt, wäre gem. § 62 OWiG ein Beschluss dahingehend herbeizuführen, dass sie sich die Daten von ihrem Vertragspartner, also vom Hersteller, besorgen muss. Bleibt die Herausgabe aus, kann das Gericht die Sache nach § 69 Abs. 5 OWiG zurückverweisen oder direkt nach § 47 OWiG einstellen.[21]

Für sich genommen bleibt das Messverfahren eine Black Box, welche letztlich Ergebnisse ausspuckt. Inzwischen bietet der Hersteller ein Onlineprogramm hinsichtlich der Rohmessdaten an. Dieses vermittelt immerhin die grafische Aufarbeitung der Rohmessdaten und verschiebt die unzureichende Einsichtsfähigkeit lediglich auf...

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