Rz. 46

Wurde eine zuvor ausgeübte vollschichtige Berufstätigkeit nicht leichtfertig aufgegeben (typischer Weise die Arbeitgeberkündigung), verlangt die Berücksichtigung fiktiver Einkünfte:

das Fehlen ausreichender Bemühungen um einen Arbeitsplatz[15] und
die Feststellung, dass er unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände (Gesundheit, Alter, Ausbildung und Berufserfahrung) Einkünfte in der fiktiv zurechenbaren Höhe tatsächlich erzielen könnte (realistische Beschäftigungschance[16]).

Der BGH formuliert üblicherweise:

 

BGH, Beschl. v. 18.3.2020– XII ZB 213/19 Rn 41

Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber allerdings verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden (sog. gesteigerte Unterhaltspflicht). Darin liegt eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht.

Aus diesen Vorschriften und aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt auch die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft.

Wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden.

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, setzt neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen voraus (Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. § 1 Rn 784).

Schließlich darf dem Unterhaltspflichtigen auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise zu erzielen ist (Senatsbeschluss vom 24.9.2014 – XII ZB 111/13, FamRZ 2014, 1992 Rn 18 m.w.N.; s. auch BVerfG NJW 2012, 2420 Rn 19 m.w.N.)

 

BVerfG, Beschl. v. 9.11.2020 – 1 BvR 697/20 Tz 12

Aus dieser in Art. 6 Abs. 2 GG wurzelnden fachrechtlichen Vorschrift folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz ihrer Arbeitskraft. Verfassungsrechtlich ist dabei nicht zu beanstanden, dass bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht allein auf das tatsächliche Vermögen und Einkommen des Verpflichteten, sondern auch auf dessen Arbeits- und Erwerbsfähigkeit abgestellt wird und demzufolge dem Unterhaltsschuldner ein fiktives Einkommen zugerechnet wird, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese "bei gutem Willen" ausüben könnte (vgl. BVerfGE 68, 256 <270>).Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen wird damit nicht ausschließlich durch sein tatsächlich vorhandenes Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats v. 15.2.2010 – 1 BvR 2236/09, Rn 17; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats v. 18.6.2012 – 1 BvR 1530/11, Rn 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats v. 18.6.2012 – 1 BvR 2867/11, Rn 10).

Auch neben einer bloß fiktiven Vollzeittätigkeit besteht die Obliegenheit eine Nebentätigkeit aufzunehmen, deren Verletzung zu zusätzlichen fiktiven Nebeneinkünften führt.

 

BGH, Beschl. v. 24.9.2014 – XII ZB 111/13 Rn 19 = BeckRS 2014, 20122

Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines – wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit – lediglich fiktiven Einkommens aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner grundsätzlich zudem eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit im selben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner (Senatsbeschluss vom 22.1.2014 – XII ZB 185/12, FamRZ 2014, 637 Rn 18). Trotz der gesteigerten Unterhaltspflicht ergeben sich die Grenzen der vom Unterhaltspflichtigen zu verlangenden Tätigkeiten aus den Vorschriften des Arbeitsschutzes und den Umständen des Einzelfalls. Die Anforderungen dürfen nicht dazu führen, dass eine Tätigkeit trotz der Funktion des Mindestunterhalts, das Existenzminimum des Kindes zu sichern, unzumutbar erscheint (vgl. Senatsurteile BGHZ 189, 284 = FamRZ 2011, 1041 Rn 29 ff. und vom 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 Rn 20, 28).

 

Rz. 47

Das Grundrecht des Unterhaltsschuldners auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ist zu wahren.

 

BVerfG, Beschl. v. 9.11.2020 – 1 BvR 697/20 Tz 13

Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit darf von Unterhaltspflichtigen nach § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Die Gerichte haben im Einzelfall zu prüfen, ob Unterhaltspflichtige in der Lage sind, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen, oder ob dieser ihre finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt (B...

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