Rz. 94

Unseriöse Geschäftspraktiken standen schon immer im Fokus der öffentlichen Diskus­sion. Allerdings haben die Kommerzialisierung des Internets in den 1990-er Jahren, die kontinuierliche Optimierung der Internet-Infrastruktur, u.a. durch die Erhöhung der ­Datenübertragungsraten und die Einführung normierter Protokolle, sowie die ab den 2000-er Jahren entstandenen diversen Social-Media-Plattformen mit z.T. jeweils mehreren Milliarden aktiven Nutzern, einhergehend mit einer zunehmenden Interaktivität und einer rasanten Verbreitung von immer leistungsfähigeren Endgeräten, zu umfassenden Umwälzungen und zu einem grundlegenden Wandel des Kommunikationsverhaltens und der Mediennutzung in allen Lebensbereichen geführt.[186]

Die neuen Möglichkeiten der einfachen und schnellen Verbreitung von Informationen und Meinungen haben sich auch die Verbraucherzentralen und ihr Dachverband, der im Jahr 2000 gegründete Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (Berlin) sehr bald zunutze gemacht. So wurden von ihnen im Jahr 2011, neben massenhaften Abmahnungen und deren Gebühren – insbesondere wegen Urheberrechtsverletzungen – sowie den Folgen unerlaubter Telefonwerbung, als unseriös erachtete Inkassomethoden in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt.

Dagegen ist nichts einzuwenden. Unseriöse Methoden gleich welcher Form sind an den Pranger zu stellen. Es darf allerdings erwartet werden, dass zwischen gesetzwidrigen Methoden und solchen, die auf politischer Ebene als unangemessen angegriffen werden unterscheiden wird. Nicht existente Gebühren oder Auslagen zu erheben oder eine die Vergütung des Rechtsanwaltes nach dem RVG übersteigende Vergütung erstattet zu verlangen, ist gesetzwidrig und deshalb unseriös. Den Gebührenrahmen der Nr. 2300 VV RVG auszuschöpfen ist dagegen gesetzlich zulässig und auch dann nicht unseriös, wenn Verbraucherzentralen – zulässigerweise – den gebührenrahmen für zu groß erachten.

 

Rz. 95

Es sind vor allem drei Aspekte der Inkassotätigkeit die als unseriös oder jedenfalls regelungsbedürftig qualifiziert werden. Das ist im Einzelfall zu klären:

Inkassodienstleister trieben (auch) Forderungen bei, die materiell-rechtlich nicht berechtigt seien und bei denen der Gläubiger einen rechtswidrigen Zweck verfolge;

 

Hinweis

In Rechtsprechung und Literatur[187] ist lange erkannt, dass auch der Rechtsanwalt "tagtäglich" unbegründete Klagen erhebt und damit unbegründete Forderungen geltend macht. Der AnwGH Hamm schreibt dazu: "Allerdings ist allein der Umstand, dass ein Anwalt eine nicht bestehende Forderung geltend macht oder eine bestehende Forderung bestreitet, für sich genommen noch nicht berufsrechtswidrig. Selbst wenn der Anwalt damit rechnet, dass die von ihm geltend gemachte Forderung nicht besteht, dürfte dies letztlich nicht zu beanstanden sein."[188] Dem ist zuzustimmen. Es ist dem Zivilprozess immanent, dass entweder die Rechtsverfolgung oder die Rechtsverteidigung nicht berechtigt erfolgt. Der Klage wird nämlich entweder stattgegeben, so dass die Rechtsverteidigung unberechtigt war oder die Klage wird abgewiesen, so dass die Rechtsverfolgung ohne Grundlage geblieben ist. Niemand wird aus diesen Fällen ableiten wollen, dass der die unberechtigte Forderung verfolgende Rechtsanwalt unseriös gehandelt hat.

Es geht nicht um solche Konstellationen, sondern um Fälle, in denen ganz bewusst und gewerbsmäßig nicht bestehende Forderungen geltend gemacht werden und in denen unerheblich ist, ob ein Rechtsanwalt, ein Inkassodienstleister oder der vermeintliche Gläubiger agiert. Vor diesem Hintergrund relativieren sich Zahlen von Verbraucherschutzverbänden, nach denen in 2.000 bis 4.000 Fällen Bedenken gegen die Berechtigung einer Forderung bestehen, wenn im gewerblichen Inkasso jährlich nahezu 20 Mio. Forderungen verfolgt werden. Es geht dann um weniger als 0,1 % aller Fälle. Liegt dies nicht im Rahmen der menschlichen Fehlertoleranz, sondern handelt es sich um die versuchte Einziehung unberechtigter Forderungen, gehören diese Fälle zu den Staatsanwaltschaften, damit diese die verfolgen. Dass dies nicht geschieht, mag seinen Grund darin haben, dass viele Schuldner die gegen sie geltend gemachte Forderung unberechtigt als nicht begründet ansehen. Dass ein Schuldner eine Forderung für unberechtigt hält,[189] bedeutet nicht, dass sie auch objektiv unbegründet ist. Wer gibt schon gerne zu, eine fortgesetzte Pflichtverletzung zu begehen und begründete Forderungen nicht zu bezahlen. Die Begründetheit festzustellen, obliegt den Gerichten. Die Darlegungs- und Beweislast für die Begründetheit liegt bei dem Gläubiger. Zahlt der Schuldner nicht, bedarf es nur eines "Kreuzchens" im gerichtlichen Mahnverfahren, um über den Widerspruch diese Klärung herbeizuführen.

Ist die Forderung tatsächlich betrügerisch, wird noch zu unterscheiden sein, ob der einziehende Rechtsdienstleister Mittäter ist oder seinerseits von dem vermeintlichen Gläubiger der unberechtigten Forderung getäuscht, d.h. als Werkzeug benutzt wurde.

Es ist auch kein Skandal...

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