Rz. 55

Die Rechtsfrage ist einer bestimmten Kollisionsnorm zuzuordnen (Qualifikation). Hierbei handelt es sich um den ersten entscheidenden Abschnitt der kollisionsrechtlichen Falllösung.

 

Rz. 56

In den meisten Fällen ist die Qualifikation einer Rechtsfrage so eindeutig, dass sie dem Rechtsanwender als gedanklicher Schritt kaum bewusst wird. Die besondere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass sich die Systembegriffe der Kollisionsnorm zwar regelmäßig an den Kategorien des inländischen materiellen Rechts orientieren, aber auch dem eigenen Recht fremde Erscheinungen erfasst werden müssen. In fremden Rechtsordnungen können eine vergleichbare Funktion erfüllende Institute systematisch abweichend geregelt sein. So ist im spanischen Recht der Pflichtteil nicht als Geldanspruch, sondern als Noterbrecht ausgestaltet. Die EuErbVO und andere europäische Regelwerke zum Kollisionsrecht enthalten daher notwendigerweise Regeln zum Inhalt der eingesetzten Systembegriffe. So definiert Art. 23 EuErbVO den Inhalt des in Art. 21, 22 EuErbVO bestimmten Erbstatuts und Art. 26 EuErbVO des in Art. 24, 25 EuErbVO bestimmten "Errichtungsstatuts".

 

Rz. 57

Die unentziehbaren Rechte des Sohnes am Nachlass des Vaters im Beispiel könnte man unter den Begriff "die Berufung der Berechtigten, die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile und etwaiger ihnen vom Erblasser auferlegter Pflichten sowie die Bestimmung sonstiger Rechte an dem Nachlass" (Art. 23 Abs. 2 lit. b EuErbVO) oder unter den Begriff "der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahe stehen, gegen den Nachlass oder gegen den Erben" (Art. 23 Abs. 2 lit. h EuErbVO) subsumieren und damit erbrechtlich qualifizieren. Schwieriger wäre die Entscheidung, wenn der Sohn aufgrund des englischen Inheritance Act einen Anspruch auf bedarfsbezogene periodische Geldzahlungen geltend machte, da dieser möglicherweise als Unterhaltsanspruch i.S.d. Haager Unterhaltsprotokolls (HUP) qualifiziert werden könnten (vgl. aber Art. 1 Abs. 2 lit. e EuErbVO und § 3 Rdn 102).

 

Rz. 58

Die Frage, ob der Testator ein Testament eigenhändig ohne Beiziehung von Zeugen errichten kann, hat mit dem Inhalt und den Wirkungen der im Testament getroffenen Verfügungen nichts zu tun, wäre daher als Frage der Formgültigkeit des Testaments zu qualifizieren und somit der Regelung des Art. 27 EuErbVO bzw. dem Haager Testamentsformübereinkommen zuzuweisen.

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