Rz. 11

Nach § 43a Abs. 4 BRAO darf der Rechtsanwalt keine widerstreitenden Interessen vertreten. § 3 Abs. 1 BORA konkretisiert das Verbot dahingehend, dass der Rechtsanwalt nicht tätig werden darf, wenn er eine Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 BRAO beruflich befasst war. Als Generalklausel soll § 43a Abs. 4 BRAO dem Entstehen von Interessenkonflikten in der Person des Rechtsanwalts vorbeugen.[17]

 

Rz. 12

Neben der Sicherstellung des Vertrauensverhältnisses zum Mandanten soll die rechtsstaatliche Rechtspflege durch die Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und der Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung gewährleistet werden.[18] Diese Kriterien stehen nicht zur Disposition der Mandanten, vielmehr muss sich der Rechtsverkehr darauf verlassen können, dass die berufsrechtlichen Grundpflichten des § 43a BRAO berücksichtigt werden, damit die angestrebte Chancen- und Waffengleichheit der Bürger untereinander und gegenüber dem Staat gewahrt werden und die Rechtspflege funktionsfähig bleibt.[19] Die anwaltlichen Aufgaben sollen durch einen unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt wahrgenommen werden.[20] Der Rechtsanwalt, der sich zum Diener gegenläufiger Interessen macht, verliert daher jegliche unabhängige Sachwalterstellung im Dienste des Rechtssuchenden.[21]

 

Rz. 13

Durch die Gewährleistung der rechtsstaatlichen Rechtspflege wird das geschützte Rechtsgut des § 356 StGB in die berufsrechtliche Grundpflicht übertragen.[22] Nach § 356 StGB macht sich ein Anwalt oder ein anderer Rechtsbeistand strafbar, wenn er den Parteien bei den ihm anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient. Infolge der Einbeziehung des geschützten Rechtsguts des Parteiverrats von § 356 StGB wird der Verbotstatbestand von § 43a Abs. 4 BRAO über den Wortlaut der Vertretung von widerstreitenden Interessen hinaus durch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal "derselben Rechtssache" ergänzt.[23] Dem Rechtsanwalt ist daher die Vertretung von widerstreitenden Interessen verboten, sofern sich bei der derselben Rechtssache gegenläufige Interessen gegenüberstehen.

Daher müssen gemäß § 43a Abs. 4 BRAO tatbestandlich drei Voraussetzungen für eine Interessenkollision vorliegen:

1. dieselbe Rechtssache,
2. ein Interessengegensatz und
3. eine Vertretung.
[17] Koch/Kilian, Anwaltliches Berufsrecht, S. 296 Rn 813 f.
[18] BT-Drucks 12/4993, 27; Kleine-Cosack, § 43a BRAO Rn 139.
[19] BVerfGE 108, 150 = NJW 2003, 2520, 2521; BGH NJW 2008, 1307.
[20] BGHZ 174, 186 = NJW 2008, 1307, 1308.
[22] Vgl. BVerfG NJW 2001, 3180, 3181; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, § 356 StGB Rn 1.
[23] Henssler/Prütting/Henssler, § 43a BRAO Rn 168.

aa) Dieselbe Rechtssache

 

Rz. 14

Unter eine Rechtssache fällt jede rechtliche Angelegenheit, die zwischen mehreren Beteiligten mit möglicherweise entgegenstehenden rechtlichen Interessen nach Rechtsgrundsätzen behandelt oder erledigt werden soll.[24] Ob dieselbe Rechtssache vorliegt, bestimmt sich nach dem sachlich-rechtlichen Inhalt der anvertrauten Angelegenheit.[25]

Entscheidend ist, dass das anvertraute materielle Rechtsverhältnis bei natürlicher Betrachtungsweise auf ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis zurückgeführt werden kann.[26] Dieselbe Rechtssache setzt daher die Identität der dem Rechtsanwalt anvertrauten Lebenssachverhalte voraus, wonach in beiden Sachenverhalten ein und derselbe historische Vorgang von Bedeutung sein muss.[27] Nicht der einzelne Anspruch aus dem einheitlichen Sachverhalt steht im Vordergrund derselben Rechtssache, sondern die Identität des einheitlichen Lebensverhältnisses selbst.[28] Von derselben Rechtssache kann daher nicht nur gesprochen werden, wenn es sich um dasselbe Verfahren und dieselben Parteien handelt; vielmehr kann auch dieselbe Rechtssache vorliegen, wenn in Verfahren verschiedener Art und verschiedener Zielrichtung ein- und derselbe Sachverhalt rechtliche Bedeutung erlangt.[29] Dabei wird die Einheitlichkeit der Lebenssachverhalte auch nicht durch einen längeren Zeitablauf, den Wechsel der beteiligten Personen oder eine zwischenzeitliche Wandlung des Rechtsverhältnisses, z.B. nach einem Prozessvergleich oder einer gütlichen Einigung, aufgehoben.[30]

 

Rz. 15

Schließlich genügt bereits für das Vorliegen derselben Rechtssache die Teilidentität der Sachverhalte. So hat der Anwaltsgerichtshof NRW jüngst hierzu ausgeführt:

Zitat

"Wenn auch in § 43a BRAO nicht wie in § 3 BORA, § 356 StGB von "derselben Rechtssache" die Rede ist, so ist dem berufsrechtlichen Begriff der "widerstreitenden Interessen" deren Ableitung aus einem zumindest teilweise identischen Lebenssachverhalt immanent. Überschneiden sich die von den verschiedenen Mandanten unterbreiteten Sachverhalte mit den daraus resultierenden materiellen Rechtsverhältnissen auch nu...

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