Rz. 21

Unter dem Erbfallszenarium sind die mit Eintritt des Erbfalls entstehende neue Rechtslage und deren rechtliche und wirtschaftliche Auswirkungen für die Beteiligten zu verstehen. Wenn bei der Errichtung der letztwilligen Verfügung der Berater nicht auf die unterschiedlichen Angriffs- und Verteidigungsrechte der einzelnen Beteiligten nach dem Erbfall deutlich hingewiesen hatte, so führt dies immer wieder zu Überraschungen und Irritationen, die eine friedliche Auseinandersetzung behindern oder unmöglich machen.

 

Rz. 22

So kann der überlebende Ehegatte, der nach dem vorhandenen Berliner Testament Alleinerbe wurde, nicht verstehen, dass nicht nur die einseitigen Kinder des verstorbenen Ehegatten, sondern auch gemeinsame Kinder umfassende Auskunftsrechte über die Vermögensverhältnisse und ihre Änderungen zeitlich zurück bis zur Eheschließung verlangen können. Die Pflicht zur lückenlosen Auskunft mit Belegen/Urkunden und die Bewertung der Vermögensgegenstände zu unterschiedlichen Zeitpunkten stellt, zumal wenn Fristen gesetzt werden, den überlebenden Ehegatten, insbesondere dann, wenn er betagt ist und sich mit diesen Angelegenheiten zuvor nicht verantwortlich befasst hatte, vor eine nicht leicht und schon gar nicht rasch zu lösende Aufgabe. Sollte der Erblasser lebzeitig Schenkungen vorgenommen haben, z.B. vor 30 Jahren an die Erbin selbst, oder vor 9 Jahren an ein Kind in einer Notsituation, oder gar an Dritte, so können die pflichtteilsberechtigen Kinder, oder bei kinderloser Ehe die noch lebenden Eltern des Erblassers gegen die Erbin Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen. Kommt der überlebende Ehegatte seiner Auskunftspflicht nicht in relativ kurzer Frist vollumfänglich nach, so wird er, ohne Rücksicht auf sein Alter, in der Regel auf Auskunft verklagt. Damit ist eine friedliche Erbauseinandersetzung bereits wenige Wochen nach dem Erbfall gescheitert.

 

Rz. 23

Das Erbrechtsszenarium lässt sich für einen im Erbrecht kundigen Anwalt relativ präzise voraussagen, sofern er mit seinem Mandanten anlässlich der Beratung zur Errichtung einer letztwilligen Verfügung den erbfallrelevanten Sachverhalt bereits erarbeitet und dokumentiert hatte. Der überlebende Ehegatte hat dann alle von ihm je zu fordernden Auskünfte und Unterlagen zur Hand. Er kann die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Auskunft im Bedarfsfall in der Regel auch rasch und problemlos an Eides statt versichern. Eine Dokumentation des erbfallrelevanten Sachverhalts durch den Notar findet nicht statt.

In Kenntnis des Erbfallszenariums stellen sich für die Testierenden zahlreiche Fragen, die sie im Hinblick auf eine Vereinfachung der Auseinandersetzung mit ihrem Berater besprechen wollen. Ist der Berater hierzu fachlich in der Lage und auch bereit, so wird er in einer gemeinsamen Erörterung mit den Testierenden den Entwurf der letztwilligen Verfügung entsprechend anpassen.

Die Ermittlung und Dokumentation des erbfallrelevanten Sachverhalts und des erbfallrelevanten Szenariums stellen die optimale Ausgangslage zur Ermittlung der erbfallrelevanten Willensbildung dar.

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