Rz. 798

Als weitgehend geklärt kann wohl angesehen werden, dass ein bloßer "Funktionsübergang" ohne den Übergang von wesentlichen sächlichen Betriebsmitteln und/oder die Übernahme wesentlicher Teile des Personals ("Wirtschaftliche Einheit") nicht die Rechtsfolgen des § 613a BGB auslösen kann.[800]

 

Rz. 799

Maßgeblich ist die "Gesamtwürdigung aller Umstände".[801] Ob eine "Wahrung" oder "Identität der wirtschaftlichen Einheit" im Rahmen des Übergangs gegeben ist, soll von den objektiven Merkmalen, nicht von den subjektiven Erwartungen des Erwerbers abhängen.[802]

 

Rz. 800

Soweit der Gesetzgeber zulässt, dass die Arbeitgeberseite durch Rechtsgeschäft ohne Zustimmung der Beschäftigten ausgewechselt wird, trifft ihn eine aus Art. 12 GG folgende Schutzpflicht, damit das Interesse der Arbeitnehmerseite an der Erhaltung der Arbeitsplätze hinreichend Beachtung findet. Dem trägt der Gesetzgeber mit der gesetzlichen Anordnung des § 613a Abs. 1 S. 1 BGB Rechnung. Soweit das BAG die materiellen Betriebsmittel, die für einen möglichen Betriebsübergang entscheidend sein können, für die Konstellation der Auftragsnachfolge nach dem Kern des zur Wertschöpfung erforder­lichen Funktionszusammenhangs bestimmt, bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch wenn die Anwendung der Grundsätze zur Bestimmung einer übergangsfähigen wirtschaftlichen Einheit im Rahmen eines Betriebsübergangs im Einzelfall schwierig ist, folgt daraus nicht, dass das letztinstanzliche nationale Fachgericht in derartigen Fällen verfassungsrechtlich gehalten wäre, den EuGH anzurufen.[803]

 

Rz. 801

Die neuere Rechtsprechung des EuGH,[804] wonach ein reiner Funktionsübergang – ohne Übertragung relevanter materieller oder immaterieller Betriebsmittel und ohne Übernahme eines nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils des Personals – nicht zur Anwendung der Rechtsfolgen der Richtlinie 77/187/EWG v. 14.2.1977, also des § 613a BGB führt, ist selbstverständlich auch im Insolvenzverfahren einschlägig.[805]

 

Rz. 802

Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. In Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt, kann eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die durch eine gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden sind, eine wirtschaftliche Einheit darstellen. Die Wahrung ihrer Identität ist anzunehmen, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals (Hauptbelegschaft) übernimmt.[806]

 

Rz. 803

Hingegen stellt die bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen Auftragnehmer (Funktionsnachfolger) keinen Betriebsübergang dar.[807]

 

Rz. 804

Selbst die Übernahme von 75 % des Personals soll allerdings für sich gesehen dazu nicht ausreichen können, wenn die frühere Arbeitsorganisation nicht aufrechterhalten wird und die Anforderungen an die Qualifikation des Personals nicht hoch sind.[808]

 

Rz. 805

 

Beispiel

Vor diesem Hintergrund hat das LAG Niedersachsen im Falle eines Sanitär- und Heizungshandwerksbetrieb die Übernahme eines wesentlichen Teils der ausgebildeten Fachkräfte als Voraussetzung für einen (Teil-)Betriebsübergang angesehen.[809]

 

Rz. 806

 

Beispiel

Das BAG hat bei einem Übergang aller vorhandenen Reinigungskräfte bei dem Wechsel eines Reinigungsauftrags in einem Krankenhaus entschieden, dass dies "regelmäßig" einen Betriebsübergang darstelle.[810]

 

Rz. 807

Zur Erreichung des Betriebszweckes der Arztpraxis kam es deshalb im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft an. Die materiellen und immateriellen Betriebsmittel spielten nur eine untergeordnete Rolle. Es handelte sich demnach um einen betriebsmittelarmen Betrieb, bei dem es auf ein "eingespieltes Mitarbeiterteam" und die Fachkenntnisse dieser Mitarbeiter ankommt. Ein solcher Betrieb kann zwangsläufig unter Aufrechterhaltung seiner Identität nur dann von einem Betriebserwerber fortgeführt werden, wenn dieses Mitarbeiterteam übernommen wird, weil dieses beim betriebsmittelarmen Betrieb identitätsbildend ist.[811]

 

Rz. 808

Auch bei Leiharbeitsunternehmen kann es nach der Auffassung des EuGH zu einem Betriebsübergang kommen, obwohl Leiharbeitsunternehmen kaum Arbeitnehmer in ihrem "eigenen Betrieb" im Sinn einer organisatorischen Einheit beschäftigen.[812] Dem steht nicht entgegen, dass die verliehenen Arbeitnehmer jeweils in die Organisationsstruktur des Kunden integriert sind. Sie bleiben dennoch wesentliche Elemente, ohne die das Leiharbeitsunternehmen seine wirtschaftliche Tätigkeit nicht ausüben könnte. Auch beim Übergang der Beschäftigten zwischen zwei Leiharbeitsunternehmen kann ein Betriebsübergang i.S.v. Art. 1 der Richtlinie 2001/23 vorliegen. Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten Leiharbeitsverhältnisse nicht schlechthin vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen dürfen. Daher sind bei der Auslegung des Begriffs der wirtscha...

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