Rz. 129

Das Gericht muss den Betroffenen allerdings auf einen entsprechenden Antrag hin gem. § 73 Abs. 2 OWiG von der Erscheinungspflicht entbinden, wenn er erklärt, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht äußern werde, oder wenn er sich bereits zur Sache geäußert hat und die Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich erscheint. Sofern sich nach ordentlicher Abladung des Betroffenen Anhaltspunkte ergeben, welche seine Anwesenheit doch erforderlich machen, sind eine erneute Ladung und ein Neubeginn der Hauptverhandlung erforderlich.[264]

 

Rz. 130

Das Gericht kann also einen Entbindungsantrag nicht ohne Weiteres ablehnen, insbesondere hat es hierzu kein Ermessen.[265] Sofern der Betroffene also vorab seine Fahrereigenschaft eingeräumt hat und erklärt, darüber hinaus keine weiteren Angaben zu machen, ist das Gericht regelmäßig zur Abladung angehalten.[266] Die Fahrereigenschaft sollte in jedem Fall eindeutig erklärt werden, ein bloßes "Nichtbestreiten" kann ggf. als unklare Einlassung gewertet werden.[267] Von vorangegangenem Bestreiten sollte sich vorsorglich distanziert werden.[268]

 

Rz. 131

Ob die Anwesenheit des Betroffenen für wesentliche Gesichtspunkte erforderlich ist, ist im Einzelfall zu bewerten. Bloße theoretische Möglichkeiten hierfür scheiden jedenfalls aus.[269] Auch die Spekulation des Gerichts, der Betroffene werde seine Meinung in der Verhandlung ändern und doch weiter zur Sache aussagen, genügt nicht.[270] Ebenso wenig genügt die bloße Möglichkeit, dass der Polizist sich durch die Präsenz des schweigenden Betroffenen besser erinnern könne,[271] dies ist nur ausnahmsweise und mit erheblichem Begründungsaufwand möglich.[272] Für die Entscheidung, ob ein Fahrverbot verhängt werden muss, ist das Erscheinen des Betroffenen dagegen nicht in jedem Fall erforderlich.[273] Wenn eine sehr deutliche Erhöhung der Regelbuße in Betracht zu ziehen ist, können evtl. auch die wirtschaftlichen Verhältnisse zu den wesentlichen Gesichtspunkten des Sachverhalts zählen.[274] Soweit es dem Gericht darauf ankommt, kann eine Entbindung von der Erscheinungspflicht erreicht werden, wenn rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin entsprechend informiert oder die Erklärung abgegeben wird, dass man sich zu den wirtschaftlichen Verhältnissen nicht äußert.

 

Rz. 132

Nicht entbinden wird das Gericht, wenn das Erscheinungsbild des Betroffenen eine Rolle spielt, wenn es also um Identifikationsfragen – etwa aufgrund eines vorhandenen Frontfotos – geht. Bei Einräumung der Fahrerfrage geht es hier also um Bedenken, dass er tatsächlich nicht der Fahrer gewesen ist. Hierbei ist es aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit irrelevant, ob der Betroffene eine unverhältnismäßig aufwendige Anreise hat.[275] Auch wenn sich der Betroffene auf ein Augenblicksversagen o.ä. berufen will, wird seine Anwesenheit in der Regel erforderlich sein.[276] Selbiges gilt, wenn eine Existenzgefährdung pauschal behauptet wird.[277]

 

Rz. 133

 

Praxistipp

In der Praxis wird der Antrag auf Entbindung des Betroffenen vom persönlichen Erscheinen häufig noch zu Beginn der Hauptverhandlung (vor Verhandlung in der Sache!) erklärt – verbunden mit der Aussage, dass die Fahrereigenschaft eingeräumt wird und der Mandant darüber hinaus keine eigenen Angaben machen wird.

Dies ist unproblematisch, soweit alle mit der Person des Betroffenen verbundenen Fragen geklärt sind und es nur noch um technische Einwände o.ä. geht. Allein aufgrund der hierdurch erfolgten Verfahrensbeschleunigung erheben Gerichte hiergegen keine Einwände.

Vorsorglich sollte der Entbindungsantrag dennoch rechtzeitig vor dem Termin gestellt werden. Wenngleich die überwiegende Rechtsprechung und Literatur die Antragstellung nicht als verspätet ansehen will, kann aus dem Wortlaut der Norm auch der gegenteilige Schluss gezogen werden.[278] Rechtzeitig ist der Antrag gestellt, wenn das Gericht unter gewöhnlichen Umständen beim üblichen Geschäftsgang hiervon Kenntnis nehmen konnte. Angesichts des immer noch umständlichen Postlaufs bei der Justiz wegen der Umstellung zum elektronischen Datenverkehr ist die Verteidigung bis auf Weiteres gehalten, den Antrag zumindest als "EILT!" zu kennzeichnen.[279]

[264] KK-OWiG/Senge, 5. Aufl. 2018, § 73 Rn 15.
[265] Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 73 Rn 5; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl. 2018, § 73 Rn 15; KG, Beschl. v. 28.9.2022 – 3 Ws (B) 226/22 – 122 Ss 94/22, BeckRS 2022, 29034 Rn 7 = zfs 2022, 708.
[266] OLG Bamberg, Beschl. v. 29.8.2012 – 3 Ss OWi 1092/12, Rn 25, juris = DAR 2013, 90; BayObLG, Beschl. v. 29.7.2019 – 201 ObOWi 1366/19, Rn 4, juris; OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.6.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 261/19 (148/19), BeckRS 2019, 11807 Rn 17, beck-online.
[267] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.12.2006 – IV-2 Ss (OWi) 180/06 – (OWi) 92/06 III, Rn 9, juris.
[268] LG Rostock, Beschl. v. 15.4.2015 – 21 Ss OWi 45/15 (Z), Rn 5, juris = NJW 2015, 1770.
[269] OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.3.2000 – 2 Ws (B) 133/00 OWiG, juris = zfs 2000, 226...

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