Entscheidungsstichwort (Thema)

Direktionsrecht. Behinderung. krankheitsbedingte Kündigung. Diskriminierung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Kündigung.

2. Nach §§ 1, 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen einer Behinderung benachteiligt werden. Der Begriff der Behinderung entspricht nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/1780, S. 31) dem des § 2 Abs. 2 SGB IX.

3. Es liegt eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung einer Behinderten iSd. § 3 Abs. 2 AGG vor, wenn der Arbeitgeber ein rollierendes Schichtsystem einführt, ohne die wegen ihrer Behinderung nicht in Nachtschicht tätig werden könnende Mitarbeiterin von der Nachtschicht auszunehmen, obwohl dies möglich gewesen wäre. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers findet seine Grenzen ua. in den Bestimmungen des AGG. Die Rechte aus dem Arbeitsvertrag sind von vornherein den Schranken des Antidiskriminierungsrechts unterworfen. Eine auf die Erkrankung der Arbeitnehmerin gestützte Kündigung ist unwirksam, weil im Bereich der diskriminierungsfrei übertragbareren Arbeitsaufgaben keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit vorliegt.

4. Die in diesem Zusammenhang ausgesprochene Kündigung verstößt außerdem gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil es dem Arbeitgeber ohne weiteres möglich war, die Klägerin leidensgerecht einzusetzen.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2; SGB II § 2 Abs. 2; AGG §§ 1-3, 5, 7-8, 20

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Urteil vom 16.01.2008; Aktenzeichen 29 Ca 16061/07)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 16. Januar 2008 – 29 Ca 16061/07 – abgeändert.

a. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 20. September 2007 nicht aufgelöst worden ist.

b. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin zu den bisherigen Bedingungen als Altenpflegerin im Zwei-Schicht-System ohne Nachtdienste bis zur Rechtskraft der Entscheidung weiter zu beschäftigen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen personenbedingten Kündigung.

Die 1948 geborene Klägerin ist bei der Beklagten seit 1992 als Altenpflegerin beschäftigt. Sie ist aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, in einem rollierenden System zu arbeiten, welches auch Nachtschichten beinhaltet. Das stellten ihr Arzt und die Betriebsärztin übereinstimmend fest.

Die Beklagte betreibt ein Altenheim. Im Jahr 2005 führte sie eine sog. Bezugspflege ein. Dennoch erhielt sie im Februar 2006 nach mehreren Qualitätskontrollen eine Abmahnung der Pflegekasse. Eine solche Abmahnung stellt eine Vorstufe zur Schließung der Einrichtung dar. Die Pflegekasse bemängelte ua., dass das Prinzip der Bezugspflege nicht ausreichend umgesetzt werde und Dienstplangestaltung sowie Personaleinsatzplanung unzureichend seien.

Bezugspflege wird wie folgt definiert:

„In der Bezugspflege werden ein oder mehrere Bewohner einer Bezugspflegeperson zugewiesen. Die Beziehung zum Bewohner wird dadurch nicht zufällig, sondern planbar. Die Pflegekraft übernimmt die Verantwortung für den Bewohner, sammelt Informationen, orientiert sich nach seinen Ressourcen und bestehenden Problemen. Der Bewohner weiß von Beginn an, dass er eine Bezugspflegeperson zur Seite hat, der er Probleme, Sorgen und Nöte mitteilen kann. Dadurch verliert der Bewohner das Gefühl der Anonymität und des Alleingelassenseins im Alltag. Die Pflegekraft ist für seinen Bewohner Ansprechpartner, Berater und Vermittler. Eine enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen und dem Team der Wohngruppe sowie den Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern etc. ist dabei unerlässlich.”

In der Einrichtung der Beklagten gibt es zwei Pflegebereiche. In dem einen Bereich werden Demenzkranke betreut, in dem anderen die übrigen pflegebedürftigen Menschen in zwei Wohngruppen. Bis Mitte 2007 gab es bei der Beklagten zwei bis drei Mitarbeiterinnen, die die gesamten Nachtschichten abdeckten. Die übrigen Mitarbeiterinnen wurden in Früh- und Spätschicht eingesetzt. Mit Schreiben vom 16. Juli 2007 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Arbeitsabläufe im Haus es dringend erforderlich machten, dass alle Mitarbeiter im Drei-Schicht-System arbeiten. Bei dem versuchsweisen Einsatz der Dauernachtwachen sei festgestellt worden, dass die vorgegebenen Qualitätsanforderungen nicht erfüllt werden könnten. Die Klägerin möge ihre Haltung zum Drei-Schicht-System überdenken. Im Rahmen des rollierenden Systems, bei dem sich alle Mitarbeiter bei der Durchführung der Nachtschichten ablösen, werden jeweils zwei bis drei Mitarbeiter aus dem Pflegebereich (Pflegerinnen und Pflegehelferinnen) für eine Nachtschicht benötigt. Dauernachtschichten gibt es nicht mehr. Insgesamt werden nach der Darstellung der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer etwa 24 Pflegekräfte eingesetzt, unter denen die Nachtschichten aufgeteilt werden.

Die Beklagte kündigte de...

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