Entscheidungsstichwort (Thema)

Lohnsteuerhaftung im 2. Halbjahr 1990 im Beitrittsgebiet: nicht bei Steuerabzug des Arbeitgebers in Übereinstimmung mit einschlägigen allgemeinen Verwaltungsanweisungen, Konkurrenz der §§ 42d EStG und 20 Abs.4 AStVO DDR, Ermessensausübung

 

Leitsatz (amtlich)

Führt der Arbeitgeber den Lohnsteuerabzug im Beitrittsgebiet im zweiten Halbjahr 1990 in Übereinstimmung mit den für die Zeit ab 1. Juli 1990 ergangenen Arbeitshinweisen des Ministeriums der Finanzen der DDR durch, ist seine Haftungsinanspruchnahme ungeachtet dessen ermessenswidrig, daß die Arbeitshinweise erst im BStBl I vom 19. Oktober 1990 veröffentlicht worden sind.

 

Orientierungssatz

1. Unabhängig davon, ob für die im 2. Halbjahr 1990 im Beitrittsgebiet geleisteten Lohnzahlungen als Haftungsnorm für die Lohnsteuerhaftung noch § 20 Abs.4 AStVO DDR oder § 42d EStG in Betracht kam, sind jedenfalls einheitliche Ermessensabwägungen für die Haftung für Lohnzuflüsse anzustellen (Festhaltung am BFH-Urteil vom 12.5.1995 VI R 95/94).

2. Die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftender ist unbillig und ein gleichwohl ergangener Haftungsbescheid aufzuheben, wenn der Arbeitgeber den Lohnsteuerabzug in Übereinstimmung mit allgemeinen Weisungen der zuständigen oberen Finanzbehörden der Länder oder des Bundes vorgenommen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber im konkreten Fall Kenntnis von der diesbezüglichen Anordnung hatte. Der Senat braucht nicht darüber zu entscheiden, in welchem zeitlichen Rahmen allgemeine Verwaltungsanweisungen bei der für das Haftungsverfahren vorzunehmenden Ermessensausübung zu beachten sind.

 

Normenkette

AEBestV DDR § 20 Abs. 4; EStG § 42d; LStR Abschn. 145 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c

 

Verfahrensgang

FG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 08.08.1995; Aktenzeichen II 56/94)

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine AG, sah sich gezwungen, im 2.Halbjahr 1990 mehrere Mitarbeiter zu entlassen. Im Tarifvertrag zur Regelung arbeitsrechtlicher Fragen der Beschäftigten in Unternehmen der Bauindustrie im Zusammenhang mit Strukturveränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen vom 28. Mai 1990 zwischen dem Verband der Bauindustrie der DDR e.V. und dem Zentralvorstand der Industriegewerkschaft Bau-Holz war hierzu vorgesehen, daß zur weitgehenden Einschränkung sozialer Belastungen und Härten bei Strukturveränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen von der Unternehmensleitung ein den betrieblichen Bedingungen angemessener Sozialplan zu erarbeiten und mit dem Vertretungsorgan der Belegschaft zu vereinbaren sei. Weiterhin war festgelegt, daß in einem solchen Sozialplan Beschäftigten, mit denen im eigenen Unternehmen oder in einem anderen Unternehmen keine Arbeit vereinbart werden könne und die in die Arbeitsvermittlung eintreten müßten, eine Abfindung vom bisherigen Unternehmen zu zahlen sei. Die Höhe der Abfindung sollte, abhängig von der ununterbrochenen Beschäftigungsdauer im Unternehmen, bis zu acht durchschnittliche Monatsnettolöhne betragen. Die Abfindung sollte nicht der Lohnsteuer unterliegen.

Im Sozialplan der Klägerin vom 21. Juni 1990 wurden diese Vorgaben aus dem Tarifvertrag übernommen. Entsprechend dieser Vereinbarung hat die Klägerin in der Zeit vom 1. Juli 1990 bis 31. Oktober 1990 an insgesamt 80 ausgeschiedene Arbeitnehmer Abfindungen für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt, ohne sie dem Lohnsteuerabzug zu unterwerfen. Im Anschluß an eine Lohnsteueraußenprüfung erfaßte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Abfindungen mit Haftungsbescheid vom 8. Dezember 1992.

Mit ihrem Einspruch hiergegen trug die Klägerin vor, es seien vor Durchführung der Personalabbaumaßnahme die lohnsteuerlichen Konsequenzen der Abfindungszahlungen untersucht worden. In diesem Zusammenhang habe man sich an das Ministerium der Finanzen der DDR gewandt, welches auf die damals bevorstehende und später in BStBl I 1990, 546 veröffentlichte Regelung vom 22. August 1990 hingewiesen habe, wonach auf Nettolohnbasis gezahlte Abfindungen lohnsteuerfrei seien. Die diesbezüglichen Arbeitshinweise für die FÄ zur Änderung steuerlicher Rechtsvorschriften ab dem 1. Juli 1990 seien auch mit Wirkung ab dem 1. Juli 1990 zu berücksichtigen. Wie sich aus der Überschrift und dem Einleitungssatz ergebe, sei eine einheitliche Sachbehandlung ab dem 1. Juli 1990 gewollt gewesen. Dementsprechend seien diese Verwaltungsanweisungen auf den gesamten Abfindungszahlungszeitraum anzuwenden. Aufgrund der Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt der obersten Behörden der Finanzverwaltung der ehemaligen DDR habe es sich bei den Arbeitshinweisen um Gesetzesanwendungsvorschriften zur Typisierung der Behandlung problematischer Rechtsanwendungsfragen gehandelt, die insoweit auch für die nachgeordneten Behörden bindend gewesen seien. Dessen ungeachtet sei jedenfalls nach dem Erlaß des Ministeriums der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt vom 6. Mai 1991 43 -S 2340- 3 aus Billigkeitsgründen von einer Besteuerung der Abfindungen abzusehen.

Das FA wies den Einspruch mit folgender Begründung zurück: Zwar bestünden keine Bedenken, aus Billigkeitserwägungen von einer Besteuerung abzusehen, soweit im Vertrauen auf Tz.IV.3. der Regelung des ehemaligen Ministeriums der Finanzen der DDR vom 22. August 1990 Abfindungsvereinbarungen getroffen worden seien, die als Bemessungsgrundlage für die Höhe der Abfindung das Nettoeinkommen vorgesehen hätten. Diese Billigkeitsmaßnahme gelte jedoch entsprechend dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 20. Dezember 1993 IV B 6 -S 2340- 37/93 nur für nach dem 1. Juli 1990 getroffene Abfindungsvereinbarungen. Demgegenüber sei im Streitfall der Tarifvertrag, in dem die Abfindungsregelungen festgelegt worden seien, bereits am 28. Mai 1990 geschlossen worden. Ein etwaiges Vertrauen in die zukünftige Regelung und auch eine nach Abschluß des Vertrages erlangte Kenntnis, selbst wenn diese vor der Auszahlung der Abfindung zugänglich geworden sein sollte, sei unter Zugrundelegung dieser Billigkeitsregelung nicht schutzwürdig.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der die Aufhebung des Haftungsbescheides beantragt worden war, mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 441 veröffentlichten Gründen statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von Art.8 i.V.m. der Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschn.II Nr.14 des Einigungsvertrages --EinigVtr-- (BGBl II 1990, 885) sowie der §§ 3, 4 der Verordnung über die Besteuerung des Arbeitseinkommens (AStVO DDR) und die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips.

Nach dem im Streitfall noch einschlägigen § 4 AStVO DDR i.V.m. Ziff.19 der Richtlinie über die Besteuerung des Arbeitseinkommens (AStR) hätten Abfindungszahlungen zu den steuerpflichtigen Lohneinkünften gehört. Eine Steuerbefreiung sei in § 3 AStVO DDR nicht vorgesehen gewesen. Diese Gesetzeslage habe nicht durch den Tarifvertrag vom 28. Mai 1990 zwischen dem Verbund der Bauindustrie der DDR e.V. und dem Zentralvorstand der Industriegewerkschaft Bau-Holz abgeändert werden können. Die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien gehe nicht soweit, daß Steuerrechtsnormen von ihnen abgeändert werden könnten. Hieran hätten die Arbeitshinweise des Ministeriums der Finanzen der DDR nichts geändert. Im Gegensatz zur Auffassung des angefochtenen Urteils habe es sich dabei nicht um Rechtsnormen gehandelt, sondern um Billigkeitsregelungen i.S. der §§ 163, 227 der Abgabenordnung der DDR (AO DDR). Zwar möge es vor Inkrafttreten des EinigVtr in der damaligen DDR üblich gewesen sein, daß das Ministerium der Finanzen durch Anweisungen bestehende formelle Rechtsnormen abgeändert habe. Diese "Rechtsetzungspraxis" sei aber spätestens mit der Verfassungsergänzung vom 17. Juni 1990 nicht mehr vereinbar. Jede andere Sichtweise der den Gegenstand dieses Rechtsstreits bildenden Arbeitshinweise würde gegen die Prinzipien der Gewaltenteilung als einem Grundpfeiler eines Rechtsstaates verstoßen. Soweit die Arbeitshinweise als Billigkeitsregelung verstanden werden können, hätten sie erst im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung einen Vertrauenstatbestand schaffen können. Da die Tarifvereinbarung vor Ergehen der Arbeitshinweise abgeschlossen worden sei, könne sich die Klägerin auf eine Billigkeitsregelung nicht berufen. Im übrigen könnten Billigkeitsregelungen in einem Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung befunden werde, keine Berücksichtigung finden, da hierüber in einem gesonderten Verfahren mit der Beschwerde als Vorverfahren zu entscheiden sei.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis zu bestätigen. Dabei kann dahinstehen, welche Rechtsqualität den Arbeitshinweisen des Ministeriums der Finanzen der DDR vom 22. August 1990 (BStBl I 1990, 546) beizumessen, insbesondere ob den betroffenen Arbeitnehmern gegenüber eine Steuerbefreiung begründet worden ist. Denn jedenfalls war es ermessensfehlerhaft, die Klägerin als Arbeitgeberin in Anspruch zu nehmen, weil der Lohnsteuerabzug in Übereinstimmung mit den in den Arbeitshinweisen vorgenommenen Verwaltungsanweisungen erfolgt ist.

1. Gemäß § 42d Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen geltend zu machen. Die dabei erforderlichen Ermessenserwägungen sind unabhängig davon anzustellen, ob für im 2.Halbjahr 1990 im Beitrittsgebiet geleistete Lohnzahlungen als Haftungsnorm noch § 20 Abs.4 Satz 1 AStVO DDR vom 22. Dezember 1952 i.d.F. des Steueranpassungsgesetzes vom 22. Juni 1990 (Gesetzblatt der DDR - -GBl DDR-- Sonderdruck Nr.1427) oder § 42d EStG in Betracht kam. In Übereinstimmung hiermit hat der erkennende Senat im Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 12. Mai 1995 VI R 95/94 (BFHE 177, 475, BStBl II 1995, 579) einheitliche Ermessenserwägungen für die Haftung für Lohnzuflüsse in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1990 gefordert. Hieran hält der Senat fest.

2. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1985 VI R 130/82, BFHE 144, 569, BStBl II 1986, 98, m.w.N.), der sich die Verwaltung angeschlossen hat (Abschn.145 Abs.7 Nr.2 c der Lohnsteuer-Richtlinien --LStR--), ist die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftender unbillig und ein gleichwohl ergangener Haftungsbescheid aufzuheben, wenn der Arbeitgeber den Lohnsteuerabzug in Übereinstimmung mit allgemeinen Weisungen der zuständigen oberen Finanzbehörden der Länder oder des Bundes vorgenommen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber im konkreten Fall Kenntnis von der diesbezüglichen Anordnung hatte. Denn anders als bei der nach § 42e EStG erteilten Anrufungsauskunft, die nur "im einzelnen Fall" und nur dem anfragenden Arbeitgeber gegenüber zu einer Bindung führt, genügt bei allgemeinen Anweisungen, daß der Lohnsteuerabzug objektiv in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Vorgaben durchgeführt wird. Diese im Rahmen der Ermessensausübung vorzunehmende Sphärenzuordnung trägt dem Umstand Rechnung, daß der Arbeitgeber von Gesetzes wegen zum Lohnsteuerabzug verpflichtet ist und dafür als "Beauftragter" der Steuerbehörden weder eine Tätigkeits- noch eine Haftungsprämie erhält. Sie entspricht dem Haftungszweck, den Arbeitgeber nicht für einen unterbliebenen Lohnsteuerabzug in Anspruch zu nehmen, der für den Fall, daß das FA den Lohnsteuerabzug durch eigene Bedienstete vornähme, ebenfalls unterbliebe, weil letztere sich an allgemeine Verwaltungsanweisungen zu halten hätten.

3. Der Senat braucht nicht abschließend darüber zu entscheiden, in welchem zeitlichen Rahmen allgemeine Verwaltungsanweisungen bei der für das Haftungsverfahren vorzunehmenden Ermessensausübung zu beachten sind. Jedenfalls erscheint es aus Gründen der Gleichbehandlung und im Hinblick auf die außergewöhnlich große Rechtsunsicherheit, die im 2.Halbjahr 1990 über das im Beitrittsgebiet anzuwendende Lohnsteuerrecht geherrscht hat, angemessen, die diesbezüglichen Arbeitshinweise vom 22. August 1990 für Lohnzuflüsse ab dem 1. Juli 1990 für verbindlich anzusehen, weil das Ministerium der Finanzen der DDR diesen Zeitpunkt ausdrücklich für maßgebend erklärt hat. Da die bei der Haftungsinanspruchnahme des Arbeitgebers anzustellenden Billigkeitserwägungen nicht davon abhängen, ob den Arbeitshinweisen Rechtsnormqualität im weitesten Sinne zukommt, müßte der vom FA gemutmaßten Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung nur nachgegangen werden, wenn mit den Arbeitshinweisen der Versuch einer bewußten Kompetenzüberschreitung unternommen worden wäre. Hierfür fehlen jedoch jegliche Anhaltspunkte.

4. Nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen war der Haftungsbescheid im Streitfall ersatzlos aufzuheben. Wie das FG ausgeführt hat und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist, erfüllen die von der Klägerin ausbezahlten Abfindungen die Voraussetzungen, unter denen nach den erwähnten Arbeitshinweisen Lohnsteuerfreiheit anzunehmen war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65912

BFH/NV 1997, 258

BStBl II 1997, 413

BFHE 182, 145

BFHE 1997, 145

BB 1997, 930 (Leitsatz)

DB 1997, 1014 (Leitsatz)

DStR 1997, 695-697 (Leitsatz und Gründe)

DStRE 1997, 413 (Leitsatz)

HFR 1997, 497-498 (Leitsatz)

StE 1997, 252 (Kurzwiedergabe)

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