So mancher Coach, der nach einem Bachelor in Ökotrophologie oder einem Magister Theaterwissenschaften/Blockflöte/Makramee durch zwei intensive Wochenendseminare zu seiner eigentlichen Berufung gefunden hat, möchte seine psychologische Fachkompetenz gern durch die Anwendung eines Persönlichkeitsmodells unter Beweis stellen. Nun könnte man ein Lehrbuch der Psychologie für Erstsemester in die Hand nehmen und schauen, was die letzten 100 Jahre Persönlichkeitsforschung ergeben haben. Oder aber – und dies ist viel leichter – man googelt einfach zwei Minuten und schaut, was erfahrene Coaches empfehlen.
Ein powergeladenes Symbol der mystischen Erfahrungswissenschaft
Sehr schnell erkennt der Algorithmus, was am besten zu unserem Coach passt, und präsentiert einen der wunderlichsten Auswüchse der mystischen Erfahrungswissenschaft – das Enneagramm. Das Enneagramm ist weitaus mehr als eine dieser aseptischen Theorien aus der Psychologie, es ist gleichermaßen ein prähistorisches Symbol und ein powergeladenes Persönlichkeitsmodell.
Der Überlieferung zufolge wurde das Symbol vor langer Zeit von einem griechisch-armenischen Esoteriker in einem Kloster gefunden. Naive Zeitgenossen hätten wohl gedacht, sie würden den Schlüssel für ein Tor in eine andere Galaxis in den Händen halten. Es bedurfte eines wirklich erfahrenen Esoterikers, um zu erkennen, dass das Enneagramm als eine Art Abfallprodukt der Schöpfungsgeschichte die tiefste aller denkbaren Wahrheiten über die Gattung Homo Sapiens überliefert: An zahlreichen Stellen berühren geheimnisvoll verlaufende Linien einen wunderbar harmonischen Kreis. Wer genau hinschaut und mitzählt, erkennt, dass es exakt neun Berührungspunkte sind (neun = altgriechisch "ennea") und diese neun Punkte stehen nicht etwa für neun Gebote des Herrn, neun Elemente, neun Körpersäfte oder neun Geißlein, sondern für neun Persönlichkeitsmerkmale, die einen jeden Menschen umfassend charakterisieren.
Neun Punkte, neun (frei wählbare) Persönlichkeitsmerkmale
In den folgenden Jahrzehnten nehmen sich nun immer Erleuchtete dieses Symbols an und belegen die neun Punkte intuitiv mit allerlei Persönlichkeitsbegriffen. Dass sie dabei immer wieder auch ganz unterschiedliche Eigenschaften zu Tage fördern – mal steht die Nummer 4 für Romantiker, ein andermal für Individualisten – liegt in der Natur der Methodik und muss uns nicht weiter stören.
Doch damit ist es noch lange nicht genug. Aus der Lage der einzelnen Persönlichkeitsmerkmale entlang des Kreises wird auf soziale oder antisoziale, aggressive oder submissive Persönlichkeitssyndrome geschlossen. Benachbarte Merkmale sollen einander friedlich ergänzen und zu gegenüberliegenden Merkmalen im Disput stehen.
Intuitive und feinsinnige numerologische Beweisführung
Die Linien zwischen den Punkten deuten an, in welche Richtung sich ein Mensch positiv entwickeln sollte, bzw. auf keinen Fall entwickeln darf. Dies ist von unschätzbarem Wert für das Coaching. Zudem findet man immer wieder geheimnisvolle Binnenstrukturen. So bilden beispielsweise die Punkte 3, 6 und 9 ein Dreieck und die Punkte 1, 2, 4, 5, 7 und 8 ein Sechseck. Dividieren wir eine beliebige natürliche Zahl durch 7, so ergibt sich in den Nachkommastellen immer dieselbe Abfolge von Ziffern (1 ÷ 7 = 0,142857, 4 ÷ 7 = 0,57142857) und genau diese Ziffern sind im Sechseck miteinander verbunden. Das kann kein Zufall sein!
Wer noch mehr Beweise benötigt, kann die Zahlen 2 bis 9 jeweils mit 9 multiplizieren und es resultiert eine Zahl, die in der Quersumme immer wieder 9 ergibt (2 x 9 = 18, 1 + 8 = 9; 8 × 9 = 72, 7 + 2 = 9). Das ist kein Zufall! Wer dennoch an einen Zufall glaubt, muss ein unverbesserlicher Ignorant sein oder Psychologie studiert haben. Eine Persönlichkeitstheorie, die durch eine derart feinsinnige numerologische Beweisführung untermauert wurde, muss objektiv, reliabel, valide und nützlich sein.
Vertreter der Forschung werden nun anmerken, dass die Persönlichkeitsmerkmale schlicht ausgedacht sind, ihre Anordnung um den Kreis vollkommen beliebig ist, und empirische Studien zeigen, dass die Korrelationen zwischen den Merkmalen für eine ganz andere Anordnung sprechen; all dies ist aber nur Ausdruck akademischer Kleingeistigkeit. Die großen Wahrheiten erschließen sich nur intuitiv.
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden, warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.