Die Sichtung von Bewerbungsunterlagen ist bekanntermaßen die Königsdisziplin der Personalauswahl für Menschenkenner, intuitive Erfahrungsmenschen und Hobby-Psychologen. Hier laufen sie zur Hochform auf. Jeden Tag wird vieltausendfach gedeutet, als gäbe es kein Morgen: Aus der Länge des Anschreibens erschließen erfahrene Personalfachkräfte die Leistungsmotivation von Bewerberinnen und Bewerbern. Zwischen den Zeilen der (inzwischen wohl meist von einer KI formulierten) Anschreiben fahnden sie nach Persönlichkeitsprofilen. Und wenn kein Bewerbungsfoto mitgeschickt wurde, gehen sie auf die Jagd in sozialen Netzwerken – was hat jemand zu verbergen, der kein Foto beilegt?
Elternschaft als wichtiges Bewertungskriterium
Die einschlägige Forschung ist in der Regel unbekannt oder interessiert ganz einfach nicht. Wer benötigt auch schon Ratschläge von Menschen, die allenfalls 50 Bewerbungen in ihrem Leben gesichtet haben? Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen. Das ist ja auch der Grund, warum man sich niemals von einem Zahnarzt behandeln lassen würde, der nicht mindestens zehn falsche Zähne im Mund trägt und Polizistinnen und Polizisten erst dann ihr Handwerk beherrschen, wenn sie selbst zwei Jahre hinter Gittern saßen.
Viele tausend Bewerberinnen und Bewerber werden jeden Tag unter anderem danach bewertet, ob sie Kinder erziehen oder nicht. Die einen wollen keine Eltern einstellen, weil die aufgrund von Mumps, Pocken und Beulenpest ständig zu Hause bleiben müssen. Die anderen sind – ganz im Gegenteil – gerade an Eltern interessiert, weil diese über exzellente soziale Kompetenzen verfügen, denn: Wer sich dafür entscheidet, ein Kind zu bekommen, der macht dies nach einer sorgfältigen Abwägung der eigenen Kompetenzen. Kann ich gut mit anderen Menschen umgehen? Sollten andere etwas von meinem Sozialverhalten lernen? Bin ich ein Meister des Konfliktmanagements? Wer all diese Fragen mit "ja" beantwortet, entscheidet sich entweder dazu, Kinder zu bekommen oder arbeitet später im Personalwesen. Doch damit nicht genug, Eltern heben durch die Kindererziehung ihre sozialen Kompetenzen auf eine neues Niveau. Sie lernen, Menschen zu führen, Konflikte zu lösen und werden zu perfekten Selbstdarstellern. All dies macht sie unter anderem zu besseren Führungskräften.
Zusammenhang von sozialen Kompetenzen und Kindererziehung
So weit, so gut. Wer sich mit Plausibilitätsbetrachtungen zufrieden gibt und ungern seine Illusionen zerstören möchte, der sollte an dieser Stelle nicht mehr weiterlesen.
Allen anderen müssen wir leider viel Wasser in den Wein der vermeintlichen Erkenntnis gießen. Zwei aktuelle Studien untersuchen den Zusammenhang zwischen verschiedenen Aspekten der Kindererziehung und der Ausprägung sozialer Kompetenzen. Untersucht wurde beispielsweise die Anzahl eigener Kinder, die Dauer der Kindererziehung in Jahren oder der individuelle Anteil an den Erziehungszeiten, die sich die Eltern untereinander teilen. Im Ergebnis zeigt sich:
- Bezogen auf die meisten sozialen Kompetenzen lässt sich keinerlei Zusammenhang zur Kindererziehung belegen.
- Die Anzahl der Kinder spielt fast keine Rolle. Entscheidender ist der Anteil, den eine Person an der Kindererziehung übernimmt.
- Sofern sich signifikante Ergebnisse zeigen, fallen diese sehr gering aus. Die Zusammenhänge betragen gerade einmal 1 bis 8 Prozent.
- Die signifikanten Zusammenhänge sind keineswegs immer positiv. Zwar zeigt sich bei Personen mit hohem Erziehungsanteil auch eine leicht höhere emotionale Stabilität. Dies geht aber leider damit einher, dass sie ihr eigenes Sozialverhalten weniger reflektieren und es ihnen schwerer fällt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Dumm gelaufen. Wer jetzt noch nicht komplett frustriert den Lesevorgang abgebrochen hat, erfährt auch noch, warum Kindererziehung kein sinnvolles Kriterium der Personalauswahl ist:
- Sehr viele Kinder werden geboren, ohne dass die Eltern zuvor ihre Eignung für das Erziehungsprojekt reflektiert hätten.
- Unabhängig von den eigenen sozialen Kompetenzen kann fast jede und jeder zu einem Elternteil werden.
- Viele Menschen, die Kinder haben, sind mit der Kindererziehung mehr oder minder überfordert.
- Viele Menschen, die über ausgeprägte soziale Kompetenzen verfügen, haben dennoch keine Kinder.
Schade, es hätte so einfach sein können.
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden, warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.