Personalmangel: Wohin sind die Fachkräfte verschwunden?

Biergärten bleiben geschlossen, Urlauber verpassen ihren Flug und die Oma findet keinen Platz in der Tagespflege: Personalknappheit ist überall spürbar und die Arbeitgeber schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Doch so einfach ist es nicht. Erklärungsversuche für den Fachkräftemangel.

Europaweit fallen massenhaft Flüge aus oder verspäten sich. Als Grund nennt die Luftfahrtbranche eine überraschend große Nachfrage und insbesondere das Fehlen von fachkundigem Personal.

Fachkräftemangel in der Luftfahrt: Liegt es am Gehalt?

In der Coronakrise hatten Flughäfen, Fluggesellschaften und Dienstleister Personal abgebaut und zudem Fachkräfte verloren, die sich Jobs in anderen Branchen gesucht haben – und die dabei offenbar feststellten, dass sie dort gute und attraktive Arbeitsbedingungen vorfinden. Denn insbesondere bei Bodenverkehrsdiensten und in der Kabine werden vergleichsweise niedrige Gehälter gezahlt.

Zwar weist der Flughafenverband ADV die Vorwürfe geringer Bezahlung zurück. Laut Hauptgeschäftsführer Ralph Beisel liegen die Löhne weit über dem gesetzlichen Mindestlohn und man stehe kurz vor dem Abschluss eines Branchentarifvertrags, der für die Bodenverkehrs- und Ladedienste eine einheitliche und faire Bezahlung über alle Lohngruppen hinweg sicherstelle. Aber Fakt ist: Den Flughäfen fehlen laut ADV bis zu 20 Prozent des Personals in den operativen Bereichen.

Laut Statistischem Bundesamt waren in Deutschland im April 2022 rund 11,3 Prozent weniger Menschen in der Luftfahrt-Personenbeförderung beschäftigt als drei Jahre zuvor. Das war der bislang niedrigste Wert der 2015 begonnenen Zeitreihe.

Überraschung: Die Deutschen fliegen wieder

Allem Anschein nach wurde die Luftfahrtbranche von der starken Nachfrage nach dem pandemiebedingten Einbruch - nach Kurzarbeit und Personalabbau - überrascht. Doch wenn die Fluggesellschaften und Reisebüros über Monate Flüge und Urlaubsreisen verkaufen, könnte durchaus zu erwarten sein, dass Personal benötigt wird, um diese Flüge abzuwickeln. Offenbar wurde übersehen, dass dieses Personal mit einem gewissen Zeitvorlauf rekrutiert und geschult werden muss, damit es in der Ferienzeit einsatzfähig ist.

Das bestätigt eine Auswertung der Personalmarktforschung Index Research: Die Anzeigenschaltungen für Sicherheitspersonal nahmen erst im April 2022 stark zu, die für das Bodenpersonal erst im Mai 2022 – viel zu spät für den erwartbaren Touristenansturm in der Sommersaison. Im Juni 2022 – zum Beginn der Sommersaison – ging es mit dem Recruiting erst richtig los. Dann inserierten die Flughafenbetreiber 251 Prozent mehr Positionen für die Bodencrew und 22 Prozent mehr Jobangebote für Security-Fachkräfte als im Juni 2021.

Ausgaben für Stellenanzeigen steigen um 574 Prozent

Die hohen Ausgaben für kostenpflichtige Stellenanzeigen in Printmedien und auf Online-Jobbörsen zeigen laut Index Research die dramatische Personalsituation an den deutschen Flughäfen. Zur Veröffentlichung der Jobinserate für Personen in der Flug-, Gepäck- und Frachtabfertigung investierten Flughafenbetreiber im ersten Halbjahr 2022 ein Bruttoanzeigenvolumen von fast 273.000 Euro – ein Anstieg um 574 Prozent. Bei Stellenanzeigen für Security-Mitarbeitende lagen die Ausgaben bei nahezu 710.000 Euro, was einer Zunahme um 65 Prozent entspricht.

Aber nicht nur Stellenanzeigen werden geschaltet, um das benötigte Flughafenpersonal zu finden. Auch Fachkräftekampagnen mit Social-Media-Marketing, Werbung in öffentlichen Verkehrsmitteln und branchenspezifischen Jobportalen werden laut den Personalmarktforschern verstärkt angestoßen.

Führen unattraktive Arbeitsbedingungen zu Personalknappheit?

Nicht allein die Luftfahrt verspürt einen akuten Personalmangel. Auch viele Betriebe anderer Branchen haben Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Insbesondere die Bauberufe, das Handwerk, die Pflege und der IT-Bereich verzeichnen einen erheblichen Fachkräftemangel.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung sieht den Grund in unattraktiven Arbeitsbedingungen wie niedrige Bezahlung oder ungünstige Arbeitszeiten. Laut einer repräsentativen Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Stiftung sehen – je nach ausgeschriebenem Qualifikationsprofil – ein Viertel bis ein Drittel der befragten Betriebs- und Personalräte darin den wichtigsten Faktor für Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung. In den Branchen Verkehr, Lagerei sowie Gastgewerbe ist der Anteil der Personen, die die Arbeitsbedingungen vor Ort für den Mangel verantwortlich machen, noch höher.

Abwanderung von Fachkräften: wohin genau gehen sie?

Dass Betriebs- und Personalräte die Arbeitsbedingungen in ihren Unternehmen kritisieren, ist nicht überraschend. Aber tatsächlich scheint die Abwanderung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Branchen, die in den ersten Zeiten der Pandemie im Lockdown waren, hin zu Branchen mit erhöhtem Bedarf ein Umdenken bei vielen Beschäftigten ausgelöst zu haben. Wer aus dem Biergarten in den Supermarkt wechselte oder aus dem Sicherheitsdienst in ein Testzentrum, stellte möglicherweise fest, dass die Arbeitszeiten flexibler oder familienfreundlicher sind, dass zwar die Trinkgelder der Restaurantbesucher fehlen, dass aber die Bezahlung an sich besser ist. Eine Rückkehr in die alte Beschäftigung, die monatelang nicht möglich war, lehnen viele Personen ab, weil sie sich gut in ihren neuen Jobs eingelebt haben oder weil sie erneute Schließungen befürchten.

Doch es gibt auch Ausnahmen: Die Deutsche Post meldet zum Beispiel aus der Region Freiburg Probleme mit der Briefzustellung, weil viele Aushilfskräfte, die während der Pandemie zur Post wechselten, jetzt wieder in ihre früheren Jobs in der Gastronomie und Hotellerie zurückkehrten. Wie ein Post-Sprecher der Badischen Zeitung mitteilte, nutze das Unternehmen derzeit alle möglichen Kanäle der Rekrutierung wie Anzeigen, Radiowerbung, Aushänge, Internet oder Flyer-Aktionen. Gleichzeitig aber berichtet der Gastronomieverband Dehoga aus dem Freiburger Land, dass die Menschen noch nicht in den Gaststätten und Hotels angekommen sind. Dehoga-Kreisvorsitzender Heiko Isele vermutet, dass viele Arbeitskräfte in den Einzelhandel abgewandert sind.

Sonderregelungen für Fachkräfte aus dem Ausland

Ob die Bundesregierung dem entgegensteuern kann? Die Bemühungen sind immerhin da: Ende Juni wurden Sonderregelungen zugesagt, damit Flughafenbetreiber leichter Personal anheuern können. Die Arbeitskräfte sollen vor allem in der Türkei gewonnen werden. Nun plant der Bund auch für das Gastgewerbe einen vereinfachten Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland. Doch so einfach ist es nicht, denn nicht nur sprachliche Hürden sind zu bewältigen. "Wir brauchen die schnellere Anerkennung von Berufsabschlüssen und weniger Bürokratie", sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger arbeite sie intensiv daran.

Bis es zu Ergebnissen kommt, wird es dauern. Bis dahin werden weitere Branchen von den neuen Wanderbewegungen am Arbeitsmarkt profitieren und andere darunter leiden. Gleichzeitig gehen nach und nach die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Nach Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung sind jährlich 400.000 Personen Nettozuwanderung erforderlich, um das heutige Niveau an Erwerbspersonen zu halten. Die Personalsicherung für den eigenen Betrieb wird also noch jahrelang eine Herausforderung darstellen.


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